"Die im Verfassungsrang stehende Umfassende Landesverteidigung muss als gesamtstaatliche Kernaufgabe wieder an Bedeutung gewinnen", sagt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP).

Foto: HBF/Carina Karlovits

Wien – Es ist Krieg. Und das neutrale Österreich steht nicht irgendwo außerhalb, denn es ist Teil der Europäischen Union. In der aktuellen sicherheitspolischen Jahresvorschau wird das bereits im Titel des am Freitag präsentierten 262 Seiten starken Analysebands klargestellt: "Risikobild 2023 – Krieg um Europa". Und eben nicht nur "in" Europa, sondern "um" das, was das freie Europa ausmacht.

Krieg um die Werte

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) betonte das bei der Präsentation ausdrücklich: Da geht es erstens um den Krieg Russlands gegen die Ukraine, zweitens aber auch um einen Krieg gegen westliche Werte und nicht zuletzt auch um einen Krieg gegen die europäische Wirtschaft.

Die hybriden Angriffe Russlands auf europäische Staaten hätten gezeigt, wie verletzlich die Systeme sind, auf die wir uns gern verlassen. Diese zu schützen ist auf den ersten Blick die Rolle des Militärs: "Wir müssen uns auf den Schutz der österreichischen Souveränität zurückbesinnen, wir haben viel zu tun – unserem Baudirektor wird nicht fad, unserem Rüstungsdirektor auch nicht", sagte die Ministerin.

Jeder Einzelne gefordert

Aber die militärische Aufgabe sei eben nur ein Teil der Umfassenden Landesverteidigung (ULV). Dabei handelt es sich um ein Konzept aus den 1970er-Jahren, das in der Verfassung steht, aber seit dem Jahr 1989 mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist. Wer weiß noch, was zivile Landesverteidigung ist? Oder wirtschaftliche? Deren Defizite hat man in der Energie- und Medikamentenversorgung der letzten Monate ja gesehen. Und um die geistige Landesverteidigung hat sich eine von Pazifismus beseelte Gesellschaft auch schon lange nicht mehr gekümmert. Nun ist die geistige Landesverteidigung immerhin in die Lehrpläne zurückgekehrt – wie sich das auf die Wehrbereitschaft auswirken wird, ist noch nicht abzusehen.

Tanner fordert jedenfalls, die ULV wiederzubeleben – und setzt genau dort an: Es geht ihr dabei um eine gesamtstaatliche Zusammenarbeit, beginnend mit der "geistigen Unterstützung des Bundesheers, und die Bereitschaft jedes Einzelnen, einen Beitrag zur Sicherheit und Krisenfestigkeit unseres Landes zu leisten".

Kommunikationsproblem des Militärs

In diese Richtung argumentiert auch Franz-Stefan Gady, Militäranalyst am International Institute for Strategic Studies (IISS) in London und einer der vielen Co-Autoren des aktuellen Risikobilds: "Wir haben als Militärs und als Analysten ein Kommunikationsproblem nicht nur mit der Politik, sondern auch mit der Gesellschaft."

Das für Experten Offensichtliche – die militärischen Bedrohungen und ihre begleitenden Aktionen etwa im Internet und in der gezielten Störung wirtschaftlicher Abläufe – würde in der breiten Öffentlichkeit und den Medien oft verdrängt, verniedlicht oder schlicht übersehen.

Brigadier Peter Vorhofer fiel bei der Präsentation des Berichts die Aufgabe zu, diese Offensichtlichkeiten den anwesenden Politikern und Wirtschaftstreibenden deutlich zu machen: "Alle Megatrends, die wir analysieren, weisen auf eine Verschlechterung der Lage hin."

Sorge vor einem Angriff auf ein EU-Land

Das Bedeutendste wäre wohl die Gefahr, dass im aktuellen russischen Krieg ein Angriff auf ein EU-Land erfolgen könnte – "dann wäre Österreich blitzartig in der Situation, sich über die Beistandspflicht Gedanken zu machen". Noch sei vielen Menschen in Österreich nicht bewusst, dass es diese Beistandspflicht gibt – weil sich die irreführende Neutralitätserzählung "Wer nicht mitspielt, kann nicht verlieren" in den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt hat.

Und selbst wenn es nicht zu einem Angriff auf ein EU-Land komme, drohe eine andere Form der Eskalation Rückwirkungen auf Österreich zu erzeugen: "Was wir nicht tun dürfen, ist das nukleare Risiko zu unterschätzen", ergänzte Gady. Im publizierten Risikobild ist explizit von einem russischen "Kopfkrieg" die Rede, in dem Ängste vor einem Atomschlag und radioaktivem Fallout in der ganzen EU geschürt werden.

Bedrohung für Österreich

Im Kern geht es beim Risikobild natürlich um die konkrete Bedrohung Österreichs – schließlich ist der Herausgeber ja das Verteidigungsministerium. Dieses leitet daraus ab, welche Fähigkeiten besonders gestärkt werden müssen.

Dazu zählt vor allem die Luftverteidigung, ein Wort, das lange (etwa in Abfangjäger-Diskussionen) vermieden wurde, nun aber wie selbstverständlich verwendet wird, sogar von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), der im Bericht zitiert wird: "Die Bedrohung durch Raketen ist näher gerückt. Sie hat unser bisheriges strategisches Handeln auf den Kopf gestellt. Wir müssen die Luftverteidigung sicherstellen."

Drohnen in den Händen von Extremisten

Drohnen könnten sogar bei einer subkonventionellen Bedrohung Österreichs eine Rolle spielen, stellt der als Analyst des Kriegs gegen die Ukraine bekannt gewordene Oberst Markus Reisner fest. Sogar Terrororganisationen – nicht nur islamistische, sondern möglicherweise auch rechtsextreme – könnten sich ihrer bedienen: "Je kleiner, desto günstiger und geringer der technische Aufwand."

Und bei alledem sollte nicht vergessen werden, dass die Corona-Pandemie noch nicht überwunden und die Energieversorgung nicht völlig stabil ist – auch das gehört zum aktuellen Risikobild. (Conrad Seidl, 27.1.2023)