Bis ins hohe Alter gab Alice Urbach Kochkurse, so wie hier 92-jährig, als sie ihren Schülerinnen in San Francisco die Zubereitung von Semmelknödeln beibrachte.
Foto: San Francisco Examiner 1978 / Bancroft Library, UC Berkeley

Für die weithin beliebte STANDARD-Kolumne "Gruß aus der Küche" scheute Autor Tobias Müller jüngst auf der Suche nach den perfekten Krautfleckerln keine Mühen. Um das beste aller Rezepte zu ermitteln, durchforstete er auch historische Kochbücher. Ausgerechnet in jenem mit dem Titel "So kocht man in Wien!", 1935 erstmals veröffentlicht, wurde er allerdings nicht fündig. Erstaunlich, gemessen an der Beliebtheit dieser Speise in der Zwischenkriegszeit, der Friedrich Torberg ein literarisches Denkmal setzte: Die für ihre Krautfleckerln berühmte Tante Jolesch verriet am Totenbett zwar nicht das Rezept, aber immerhin das Geheimnis: Sie habe einfach nie genug davon zubereitet.

Krautfleckerln mit Geschichte

Das dem Kolumnisten vorliegende Exemplar stammte aus dem Jahr 1939. Seine Annahme, das Rezept sei womöglich als zu jüdisch hinausredigiert worden, sollte sich bewahrheiten. Und nicht nur das, denn das Kochbuch war im wahrsten Sinn des Wortes "arisiert" worden. Es ist ein Fall von Enteignung geistigen Eigentums, bei dem die jüdische Autorin Alice Urbach sämtliche Rechte verlor. Von 1939 bis Mitte der 1960er-Jahre erschien das beliebte Kochbuch unter einem Autor namens Rudolf Rösch in unzähligen Auflagen. Ob Rösch, den der bis heute tätige Ernst-Reinhardt-Verlag (München) als "langjährigen Küchenmeister in Wien" bezeichnete, überhaupt je existierte, ist fraglich.

Die durch Schicksalsschläge geprägte Lebens- und Erfolgsgeschichte der Alice Urbach ist erst seit kurzem bekannt: rekonstruiert von ihrer in Deutschland geborenen Enkelin Karina Urbach, Historikerin in Cambridge. Im Herbst 2020 erschien "Das Buch Alice – Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten" (Propyläen-Verlag), 2021 folgte eine TV-Dokumentation (Produktion: Anna Schwarz), die jüngst im ORF zu sehen war.

Anfang 1938 erschien Alice Urbachs "So kocht man in Wien!" in dritter Auflage. In der späteren, "arisierten" Version, fehlten jedoch Rezepte mit jüdischen Bezügen: Krautfleckerln etwa oder auch "Rothschild-Omlette" und "Jaffa-Torte".
Foto: imago images/teutopress GmbH

Der Traum von der Gastro-Karriere

1886 wurde Alice als Tochter eines erfolgreichen jüdischen Textilfabrikanten in Wien geboren. Eine Berufslaufbahn in der Gastronomie, mit der sie schon früh liebäugelte, wäre in diesem großbürgerlichen Umfeld undenkbar gewesen. Theoretisch, praktisch kam es anders. Die jung verwitwete Mutter zweier Söhne musste sich den Lebensunterhalt finanzieren.

Sie begann, Kochkurse zu geben: Zuerst improvisiert in Testküchen eines Geschäfts, in dem Gas- und Elektroherde verkauft wurden, schließlich in ihrer eigenen Kochschule, die sie in der Goldeggasse im vierten Wiener Gemeindebezirk gründete. Dem Betrieb war sogar ein Catering-Service angeschlossen, das Wiener Haushalte belieferte. Unter anderem mit den damals überaus beliebten Bridgebissen – auf Zahnstocher gespießten Happen in Bissgröße, "sodass eifrige Spieler, ohne das Spiel zu unterbrechen, sie auf einmal in den Mund stecken können".

Kochkurse in Wien ...

Besonderer Beliebtheit erfreuten sich Alice Urbachs Kochkurse, die auch Schriftstellerinnen und Künstlerinnen absolvierten. Zu ihren prominentesten Schülern gehörte die Tänzerin Grete Wiesenthal und ein Prinz aus dem Hause Liechtenstein, der sich auf einer geplanten Reise nach Südamerika nicht nur von gegrillten Grashüpfern ernähren wollte, wie Urbach in ihren Memoiren notierte.

In Kombination mit ihrer regen Vortragstätigkeit (unter anderem "Schnellküche der berufstätigen Frau") war das erste Kochbuch nur eine Frage der Zeit: 1925 erschien mit ihrer Halbschwester Sidonie als Co-Autorin Das Kochbuch für Feinschmecker (Verlag Moritz Perles). 1935 folgte der künftige Bestseller, So kocht man in Wien!, der auf 500 Seiten alles enthielt, was sie seit ihrem fünften Lebensjahr über Kochen und Haushaltsführung gelernt hatte. Anfang 1938 erschien die dritte Auflage mit 25.000 Exemplaren – ein letztes Mal unter ihrem Namen.

Alice Urbach (l.) mit ihrer Schwester Helene Eissler (r.), eine Juristin, die gemeinsam mit ihrem Ehemann im Oktober 1941 deportiert und ermordet wurde.
Foto: Privatbesitz Katrina Urbach

Flucht aus Österreich

Als Adolf Hitler im März 1938 in Wien einzog, gab Alice Urbach gerade in einem Privathaushalt eine Kochstunde: wie ein "Gladiator, stehend auf dem Auto", sei er über die Mariahilfer Straße chauffiert worden, erinnerte sie sich später. Der "Anschluss" brachte eine tragische Zäsur für die Familie, deren Mitglieder den Holocaust teils nicht überlebten: Alice’ Halbschwestern Sidonie und Karoline wurden nach ihrer Deportation in Treblinka ermordet, ihre jüngere Schwester Helene, eine Juristin, im Ghetto Lodz.

Sohn Karl war nach monatelanger Internierung im KZ Dachau freigekommen und zu seinem Bruder Otto in die USA geflüchtet. Alice selbst schaffte es nach England, wo sie zuerst als Dienstbotin tätig war. Mit einer Wiener Freundin übernahm sie später ein Heim für jüdische Mädchen aus Deutschland und Österreich, deren Eltern sie teils in letzter Minute auf Reisen geschickt hatten. Urbachs damalige Ahnung sollte sich bitter bewahrheiten: Im Rückblick hatte sie kein Kinderheim, sondern ein Waisenhaus geleitet. Bis auf eine Ausnahme wurden die Eltern ihrer Schützlinge allesamt ermordet.

Demel-Konditorei zum Geburtstag

Sie selbst emigrierte schließlich in die USA, zuerst zu ihrem Sohn nach Chicago, wo sie in einem großen Hotel als Diätberaterin tätig wurde. Zwischendurch lebte sie in New York und veranstaltete dort an ihrem Geburtstag am 5. Februar stets ein spezielles Fest: Ihr Wohnzimmer verwandelte sie dann in eine Kopie der Konditorei Demel, und die Tische bogen sich förmlich unter der Last mehrstöckiger Geburtstagstorten, Unmengen von Naschereien und ihrer berühmten Petits Fours bis hin zu pikanten Wiener Spezialitäten.

Karina Urbach, "Das Buch Alice – Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten". € 25,70 / 432 Seiten. Propyläen-Verlag.
Foto: Propyläen

... und im Altersheim

Ende der 1960er-Jahre übersiedelte sie in ein Altersheim in der Nähe ihres Sohnes nach San Francisco, wo sie neuerlich Kochkurse zu geben begann und bis ins hohe Alter von 95 Jahren sogar mit TV-Auftritten begeisterte. In den zahlreichen Interviews bis zu ihrem Tod 1983 vergaß sie eines nie zu erwähnen: ihr "drittes Kind", das Kochbuch So kocht man in Wien!, das ihr von den Nazis gestohlen worden war.

Bei einem Besuch in Wien hatte sie 1949 "ihr" Buch samt unverändertem Titel und Rudolf Rösch als Autor in einer Auslage entdeckt. Sämtliche Rezepte mit jüdischen Bezeichnungen waren daraus verschwunden, nicht nur die Krautfleckerln. Ein Plagiat, ist der österreichische Literaturwissenschafter Walter Schübler überzeugt, der sich eingehend mit diesem Fall beschäftigt hat. Bei Rösch könnte es sich um einen Strohnamen für ein Autorenkollektiv handeln. Eine offene Frage, die nur der Ernst-Reinhardt-Verlag selbst beantworten könnte.

Die offizielle Anerkennung ihrer Autorenschaft beim Verlag zu erwirken gelang Alice Urbach zu Lebzeiten nicht. Vermutlich weil sie im September 1938 gezwungen wurde, eine Erklärung zu unterzeichnen. Darin trat sie nicht nur die Verwertungsrechte für ihren Bestseller ab, sondern auch für zwei weitere Bücher, für die sie die Manuskripte und die Fotos geliefert hatte: Wiener Mehlspeisen und Die fleischlose Kost.

Alice' Hände

Auch diese Bücher wurden vom Ernst-Reinhardt-Verlag unter dem Autorennamen Rudolf Rösch bis in die 1950er-Jahre publiziert. Die perfide Gemeinsamkeit aller: Die Fotos mit Alice Urbachs Händen, die etwa Strudelteig auszogen oder Snacks mit Aspik übergossen, hatte man nie ausgetauscht. Der Zugang zum Verlagsarchiv blieb der Enkelin übrigens verwehrt. Erst ihr Interview mit dem Spiegel im Oktober 2020 brachte die Wende. Der Verlag entschuldigte sich und übertrug die Rechte an Alice Urbachs Autorenschaft an ihre Enkelinnen, die im Gegenzug auf jedwede Entschädigung verzichteten. (Olga Kronsteiner, 29.1.2023)