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Menschen über 60 betreiben eigene, höchst erfolgreiche Kanäle.

Foto: Getty Images / Silvia Jansen

Rezepte für Grießnockerln scheinen gefragt zu sein. Zumindest auf dem Kanal von Renate Kaufmann. "Servus, ihr Lieben. Wisst ihr schon, was bei euch zu den Festtagen in den Suppenteller kommt?", fragt sie in die Kamera, blauer Christbaumschmuck baumelt an ihren Ohren. "Bei uns sind es flaumige Grießnockerln, die hat sich meine Enkelin gewünscht." Über 135.000 Views verzeichnet das Tiktok-Video, darunter stehen Kommentare wie "Danke! Diese Suppe erinnert mich an meine Kindheit." Kurze, einfache Rezepte, eine ruhige Stimme und ein Schuss Heimeligkeit sind das Erfolgsrezept von Kaufmann, die den Kanal "Frag die Oma" erst im vergangenen Jahr startete.

Unter demselben Namen betreibt die Pensionistin und ehemalige Bezirksvorsteherin von Mariahilf auch einen Blog – die Idee, auf Tiktok aktiv zu werden, kam von den Enkelkindern. "Anfangs war ich nicht gerade begeistert, diese nichtssagenden Videos dort wären nichts für mich, dachte ich." Dennoch habe sie sich von den Kindern breitschlagen lassen, erzählt Kaufmann im STANDARD-Gespräch. Im Urlaub drehten sie gemeinsam ein Video über Knoblauchbutter und eine Wohnwagentour.

Seniorentanz und schräge Großmütter

In nur kurzer Zeit hat sich Kaufmann eine beachtliche Community aufgebaut: Rund 73.000 Menschen folgen ihr auf Tiktok; auf Instagram, wo sie inzwischen auch vertreten ist, sind es sogar 115.000 Follower: Zahlen, von denen viele junge Influencer:innen träumen. In Österreich nutzen 70 Prozent der Jugendlichen zwischen elf und siebzehn Tiktok – Tendenz steigend, zeigt der Jugend-Internet-Monitor. Noch beliebter ist Instagram, das 81 Prozent nutzen. Auf beiden Kanälen haben Mädchen die Nase vorn, nur Discord nutzen deutlich mehr Buben.

Trotz aller Jugendlichkeit: Auch Senior:innen entdecken zunehmend Kurzvideos für sich. Oft sind es Kinder oder Enkel:innen, die ihnen eine der beliebten Tanzchoreografien auf Tiktok beibringen oder sie in Sketches einbauen. Zu Beginn der Covid-Pandemie boomten solche Videos geradezu. Ganze Familien, die der Lockdown vereint hatte, duellierten sich in aufwendigen Tanz-Challenges.

Menschen über 60 betreiben aber längst auch eigene, höchst erfolgreiche Kanäle. Ein Tiktok-Superstar ist etwa Grandma Droniak. Die 92-jährige US-Amerikanerin hat das Geschäft von ihrem Enkel Kevin gelernt, der sie schon auf Youtube in seine Videos einbaute. Über sieben Millionen Follower hat Droniak auf Tiktok gesammelt, in ihrem Merchandise-Shop verkauft sie T-Shirts mit Sprüchen wie "Du bist nicht zu meinem Begräbnis eingeladen". Droniak tritt als sarkastische, etwas schräge Großmutter vor die Kamera. So tanzt sie in einem Video vor einem Schulgebäude und sendet eine Botschaft an ihre ehemaligen Klassenkolleginnen, die sie schikanierten: "Ich habe jetzt sechs Millionen Follower und sie verrotten unter der Erde."

Gegen Altersdiskriminierung

Bilder alter Menschen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant gewandelt, Menschen und speziell Frauen über 60 finden nun in den sozialen Medien neue Ausdrucksformen. Die US-amerikanischen Wissenschafter:innen Reuben Ng und Nicole Indran haben dieses Phänomen im vergangenen Jahr in ihrer Studie "Not Too Old for Tiktok" untersucht. In Videos von Nutzer:innen der Zielgruppe 60 plus mit mindestens 100.000 Followern haben sie Content analysiert, der sich mit Diskursen rund um das Altern auseinandersetzt.

Ihr Ergebnis: Fast drei von vier Videos zeigten ältere Erwachsene, die Altersstereotypen trotzen, 18 Prozent zeigten Inhalte, die "altersbedingte Schwächen auf die leichte Schulter nehmen", elf Prozent wiederum zeigten ältere Erwachsene, die Altersdiskriminierung anprangern. Gerade Frauen würden sich vehement gegen die gängigen Klischees von älteren Frauen als passiv, sanftmütig und schwach wehren und sich kämpferisch oder sogar unflätig präsentieren, sagte Reuben Ng dem "Guardian".

Mit weitaus weniger Augenzwinkern treten andere Seniorinnen auf Tiktok auf. Whitehairwisdom mit über 120.000 Followern etwa präsentiert jugendliche "Outfits des Tages", filmt ihre Schminkroutine und zeigt sich perfekt gebräunt und gestählt im Bikini. "Ich bin 60 und trage gerne einen Bikini, denn ein tolles Leben hat meinen Körper so gemacht!", ist unter dem Posting zu lesen – Hashtag #Greypride. Auch ihre Yoga-Videos lassen kaum auf ihr Alter schließen, für ihr Fitnesslevel erhält Whitehairwisdom viel Bewunderung.

Junggebliebene, fast alterslose Frauen seien ein neues Medienphänomen, sagt die Wiener Soziologin und Medienwissenschafterin Imtraud Voglmayr. In den 1980er-Jahren wurden die sogenannten neuen Alten entdeckt, eine Zielgruppe, die als konsumfreudig und reiselustig galt und in den Medien meist in Form heterosexueller Paare auftrat. Aktuell hingegen seien vor allem zwei Bilder präsent: fitte, junggebliebene Alte, die nichts mehr gemein haben mit Stereotypen wie der alten Frau in Kleiderschürze auf der Parkbank. Diesen Fitten wiederum ständen die Hochaltrigen entgegen, die etwa in der Berichterstattung über Pflege auftauchen – Gebrechliche, Kranke, Vulnerable. "Diese Zweiteilung wird in den Medien ganz stark reproduziert", sagt Voglmayr.

Sexuelles Begehren

Ein Quickie oder doch Slow Sex – was ist besser? Diese Frage wird in einem Video auf dem britischen Kanal "Sex Advise for Seniors" gestellt. Die beiden Protagonist*innen sprechen ganz offen über Oralsex, Erektionsstörungen oder dass es mit 61 Jahren durchaus länger dauert, um in Stimmung zu kommen.

Dass Frauen über 60 selbstbewusst und öffentlich über ihre Sexualität sprechen, ist durchaus bemerkenswert, sagt Medienwissenschafterin Voglmayr. In ihrer Forschung beobachtete sie 2010 einen Paradigmenwechsel. "Plötzlich wurde Begehren und Sexualität besprochen – und dass auch alte Frauen schön sein können." Dies könne als ein emanzipatorischer Fortschritt betrachtet werden. Doch solche Bilder seien auch eingebettet in einen neoliberalen Diskurs. "Wir sind angehalten, uns selbst zu optimieren", so Voglmayr. Gerade aktuell würden alte Menschen auch als Reservearmee gedacht. Wenn es an Lehrer:innen oder Beamt*innen fehle, könnten diese auch aus der Pension zurückgeholt werden.

Dass bei der Sichtbarkeit alter Frauen noch immer Luft nach oben ist, zeigte zuletzt auch die "Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität" der Malisa-Stiftung unter der Leitung von Elizabeth Prommer. Für die Studie wurden Produktionen von 17 TV-Vollprogrammen sowie von vier Kinderfernsehsendern im Jahr 2020 ausgewertet. Mit Blick auf das Geschlechterverhältnis ist hier ein Fortschritt zu verzeichnen. So hat sich in der Altersgruppe 50 bis 59 der Gender-Gap verringert: Der Frauenanteil ist von 34 auf 44 Prozent gestiegen. Düster sieht es hingegen in der Altersgruppe 60 und älter aus. Hier sind nur 29 Prozent der Personen am Bildschirm Frauen – ihr Anteil ist im Vergleich zu 2016 sogar gesunken.

Ehrgeizige Ziele

Auf Tiktok nehmen Seniorinnen-Influencerinnen sich indes selbst Raum. Wozu ein Notgroschen im Falle eines Blackouts dienen kann, erklärt Renate Kaufmann von "Frag die Oma" in ihrem neuesten Tiktok-Video – auch diesmal mit thematisch passenden Münz-Ohrringen. Mehrere Stunden investiert sie täglich in ihren Kanal, Werbeangebote hat sie bisher immer abgelehnt. Dass sie von der Community so viel Zuspruch bekommt, motiviert die Pensionistin. "Ich löse bei den Menschen positive Emotionen aus. Was kann man sich denn Schöneres wünschen?", sagt Kaufmann.

Aber auch der Ehrgeiz hat die Ex-Politikerin gepackt. "Natürlich will ich noch mehr Follower erreichen." Verbiegen will sich der Tiktok-Star trotzdem nicht. "Ich versuche immer authentisch zu bleiben. Ich glaube, deshalb funktioniert der Kanal auch." (Brigitte Theißl, 31.1.2023)