Leere Bahnhöfe und Abflughallen – aber volle Boulevards in Paris: Dieses Bild wird sich in Frankreichs Städten am Dienstag zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen wiederholen. Die Gewerkschaften rufen geschlossen zu einem Aktionstag auf, um die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron zu Fall zu bringen.

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DER STANDARD

Der Protest richtet sich in erster Linie gegen die geplante Erhöhung des Pensions- bzw. Rentenalters von 62 auf 64 Jahre. Premierministerin Elisabeth Borne hat erst am Wochenende wieder einmal erklärt, diese Maßnahme sei "nicht verhandelbar", da die zukünftigen Budgetdefizite die gesamte Altersversicherung bedrohen würden.

Breite Front

Die Linke und alle großen Gewerkschaften, denen sich ausnahmsweise auch die gemäßigte CFDT angeschlossen hat, rufen zu einer massiven Teilnahme an den Streiks und Demonstrationen auf. Auf der Rechten sind auch die Populisten von Marine Le Pen gegen das Rentenalter 64 – auch wenn sie offiziell nicht an den Protestumzügen teilnehmen.

Die Zukunft der Reform hängt in der Tat vom Grad der Beteiligung an den Protestmaßnahmen ab: Sollte jetzt – wie schon Mitte Jänner – mehr als eine Million Menschen auf die Straße gehen, käme Emmanuel Macron in Bedrängnis. Der Präsident hat die Rentenfrage zum Kernprojekt seiner zweiten Amtszeit gemacht. Würde er zum Rückzug gezwungen, wäre seine eigene Stellung geschwächt, wenn nicht sogar in Frage gestellt.

So weit ist es aber noch nicht. In der Nationalversammlung (Parlament) hat Macrons Parteienverband aus Renaissance, Modem und Horizons zusammen mit den konservativen Republikanern – die mit Abstrichen für die Reform eintreten – an sich genügend viele Stimmen, nämlich 312 von insgesamt 577. Je ein Dutzend Renaissance-Vertreter und Republikaner wollen aber gegen die Reform stimmen. Das könnte das Macron-Lager um die Mehrheit von 289 nötigen Stimmen bringen.

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Foto: Alain JOCARD / AFP

68 Prozent gegen die Reform

Der Linksverbund Nupès von Jean-Luc Mélenchon will das Projekt mit 7.000 Zusatzanträgen zu Fall bringen. Er stützt sich auf eine Umfragemehrheit von 68 Prozent der Bevölkerung. Auch in der öffentlichen Debatte dominieren derzeit klar die Reformgegner. Die Macronisten leiden unter dem Vorwurf der Arroganz. Sie behaupten zwar zu Recht, dass Frankreich in jeder Beziehung hinter dem europäischen Schnitt zurückliege. Das Rentenalter liegt heute in der EU fast überall bei 65 Jahren. Nicht so in Frankreich, wo ab 60 Altersjahren nur noch 36 Prozent der Senioren arbeiten – gegenüber mehr als 50 Prozent in der EU.

Solche rationalen Argumente ziehen aber kaum in der Debatte. Die Gewerkschaften argumentieren über die Rentenfrage hinaus, die Teuerung sei schon Strafe genug für schlechter Verdienende. Häufig handle es sich um Arbeiter mit einem körperlich harten Job. Sie bis 64 arbeiten zu lassen, sei sozial ungerecht.

Innenminister Gérald Darmanin befürchtet bei dem zweiten Streiktag Ausschreitungen. Er hat 11.000 Polizisten aufgeboten, 4.000 allein in Paris. Viele Regional- und Überlandzüge fallen aus. TGV-Züge und Air-France-Flüge dürften etwa zu zehn Prozent betroffen sein. Ämter und Schulen werden teils geschlossen bleiben. Um Riesenstaus zu vermeiden, ruft die Regierung die Erwerbstätigen auf, Fahrgemeinschaften zu bilden oder von zu Hause zu arbeiten. (Stefan Brändle, 31.1.2023)