Cricket ist vor allem in den ehemaligen Kolonien Englands ein absoluter Renner. In Österreich ist es in der Nische.

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Harjivan Bhullar sammelte in Australien (hier im Melbourne Cricket Ground, dem elftgrößten Stadion der Welt. Fassungsvermögen: 100000) Eindrücke und Ambitionen.

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Die Tage nach ihrer Rückkehr fühlen sich für Harjivan Bhullar wohl ein bisschen so an, als wäre sie aus der warmen Badewanne gestiegen. Das liegt klarerweise auch am Wetter. Melbourne: aktuell rund 20 Grad. Wien: Temperaturen rund um den Gefrierpunkt. Mit dem Jetlag kämpft die 22-Jährige "nicht wirklich", wie sie versichert. Und doch könnte Australien für die Wienerin gerade nicht weiter weg sein.

Sechs Monate verbrachte sie während ihres Auslandssemesters an der Monash University in Melbourne. Australien ist für viele ein Traumziel, die Träume sind aus Korallenriffs und spektakulärer Natur gemacht. Oder: das andere Ende der Welt. Wenn Bhullar von ihrer Zeit in Down Under erzählt, leuchten ihre Augen. Die Freundlichkeit der Menschen, das Wetter, die Natur, das Sammelsurium an Kulturen. Und vor allem eines: Cricket.

Korneuburger Kolonie

2019 spielte Bhullar ihr erstes Spiel für das österreichische Cricketnationalteam, seither ist sie fester Bestandteil. Cricket ist in Österreich die Nische in der Nische. Ganz im Gegensatz zu Australien. Dort zählt der Sport zu den populärsten überhaupt, zieht Massen in die Stadien und auf die unzähligen Felder, ist ein Riesenbusiness. In und um Wien gibt es zwei Felder, eines davon in Kagran und eines in Seebarn, in der Nähe von Korneuburg.

Aber was ist Cricket überhaupt? Cricket ist ein britisches Schlagballspiel, viele kennen es, nur wenige (hierzulande) kennen sich wirklich aus. Die Anfänge des Sports gehen bis ins späte 16. Jahrhundert zurück, erfunden wurde es im Südosten Englands. "Cricket ist unheimlich fordernd, sowohl körperlich als auch mental. Und es ist ein Teamsport. Man muss als Team funktionieren", sagt Bhullar.

Cricket ist aber auch unheimlich kompliziert, gilt als eine der komplexesten Sportarten der Welt. In seiner ursprünglichen Form konnte ein Spiel über fünf Tage dauern. Klar, dass das vielen zu lange war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden neue, kürzere Formate eingeführt: Ein sogenanntes T-20-Spiel dauert seither nur noch rund drei Stunden. Es geht sogar noch kürzer. Und weil Abweichungen von Traditionen immer für Wickel zwischen Puristen und Innovatoren sorgen, ist die Cricket-Welt auch irgendwie gespalten. Die Frage nach dem "wahren Cricket" gibt es noch heute.

Cricket Explained

In Österreich kann man Cricket in nahezu allen Bundesländern spielen. Der Sport fand ursprünglich in öffentlichen Parks und auf Fußball- und Hockeyplätzen statt. Organisiert ist man in 26 Vereinen, die an unterschiedlichen Ligen der Österreichischen Cricket Association teilnehmen.

Bhullars Eltern kommen aus Punjab im Norden Indiens, sie selbst ist in Wien geboren und aufgewachsen. Der Vater ist Taxifahrer, die Mama Krankenschwester, ihre ältere Schwester studiert Medizin, auch sie spielte früher Cricket, hat den Bat, also Schläger, mittlerweile aber an den Nagel gehängt.

Ehemalige Kolonien

Sieht man sich die Weltkarte mit den Ländern außerhalb Englands an, in denen Cricket populär ist, fällt ein Muster auf: Australien, Indien, Pakistan, Südafrika, Bangladesch, Sri Lanka. England brachte den Sport in die Kolonien, für die Kolonien war es mit fortlaufender Popularität die Chance, die Kolonialherren in ihrem eigenen Sport zu besiegen. Apropos populär: Das Weltmeisterschaftsspiel 2015 zwischen Indien und Pakistan verfolgten rund eine Milliarde Menschen vor den TV-Geräten, das WM-Finale 2019 zwischen England und Neuseeland sollen laut Schätzungen gar 1,6 Milliarden Menschen verfolgt haben.

Im Cricket gibt es keine Regeln, es gibt Gesetze, sogenannte Laws. Bhullar kommt das gelegen, studiert sie doch Jus. Der Sport wurde ihr nicht in die Wiege gelegt, beide Eltern interessieren sich "gar nicht für Cricket". Und doch gaben ihre indischen Wurzeln irgendwie den Ausschlag: "Ich habe mir damals einen Bollywoodfilm angesehen, und dort kam Cricket vor. Ich war sofort fasziniert", erinnert sie sich. Die junge Frau suchte sich einen Verein in Wien, kam beim Austria Cricket Club unter. Dort trainierte sie vorerst bei den Kindern mit, stellte aber schnell ihr Talent unter Beweis: vor allem am Schläger: "Ich würde mich selbst als Batter bezeichnen."

Natürlich spielte die Popularität von Cricket bei der Wahl des Auslandssemesters eine Rolle. Australien ist ein Mekka des Sports, Bhullar kam schnell beim Parkfield Cricket Club in Melbourne unter – und beeindruckte dort. Präsident David Swierzbiolek sagt über die junge Wienerin: "Jivan hat vom ersten Tag weg einen großartigen Eindruck hinterlassen und hat sich perfekt eingefügt." Sie sei "technisch sehr versiert und hat eine unheimliche Leidenschaft für den Sport". Swierzbiolek sieht Bhullar eines Tages als "Kapitänin des österreichischen Nationalteams".

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Zwischen den Kulturen

Vor Bhullar tat sich eine neue Welt auf: Sie spielte und trainierte mit den Cricketern, bei einem Testmatch (kein Probespiel, sondern die Bezeichnung für Spiele des höchsten Niveaus) trug sie beim Einmarsch die australische Flagge, traf die Stars der Szene und machte außerdem die Ausbildung zur Trainerin. Wenn Bhullar heute über ihre Zeit in Australien spricht, schummelt sich gelegentlich ein wenig Wehmut zwischen die Zeilen und ins Gesicht der 22-Jährigen. Nicht nur die Sonne und der Sport haben es ihr angetan: "Ich war früher sehr verschlossen. Das lag auch daran, dass ich zwischen den Kulturen gefangen war." In Österreich war sie "die Inderin und bei Besuchen bei der Verwandtschaft in Indien immer die Europäerin. In Australien habe ich gesehen, dass ich beides sein kann."

Im Gepäck hat die Wienerin aber nicht nur Erinnerungen, sondern auch Ambitionen für den Sport in Österreich: "Mein Ziel ist es, mehr Mädchen für Cricket zu begeistern. Dafür braucht es Sichtbarkeit." (Andreas Hagenauer, 2.2.2023)