Es war ein Ziel mit hohem symbolischem Wert, das als Anhaltspunkt dienen sollte: Bei der 21. Klimakonferenz in Paris einigten sich die Teilnehmerstaaten darauf, Maßnahmen zu setzen, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Als vorindustriell gelten die Temperaturen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als damit begonnen wurde, in großen Mengen fossile Brennstoffe zu verbrennen.

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DER STANDARD

Erstmals erwähnt wurde das 1,5-Grad-Ziel in einer Publikation der Vereinten Nationen bei der 16. Klimakonferenz in Cancún 2010. Die Wahl des Ziels geschah "auf Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse", hieß es dort. Bis zu dieser Grenze, so mutmaßte man anhand der bisherigen Forschung, sollten die Folgen des menschengemachten Klimawandels umkehrbar sein. Die Veränderung wäre also von vorübergehender Natur, künftige Generationen könnten sie wieder rückgängig machen. Eine stärkere Erderwärmung würde, das wusste man, eine Reise ohne Wiederkehr bedeuten. Dann würden Kipppunkte erreicht: Der Weltklimarat IPCC nennt etwa das Einsetzen des Zusammenbruchs polarer Eisschilde und einen beschleunigten Meeresspiegelanstieg. Dazu kommt die Freisetzung großer Mengen von natürlich gebundenen Treibhausgasen im sibirischen Permafrost oder in riesigen Mooren. Dass bis zu dieser Grenze alles gut ist und danach eine Katastrophe vorprogrammiert ist, stimmt so natürlich nicht. Die Abschätzung der Klimawandelfolgen ist schwierig und mit vielen Unsicherheiten behaftet, weil unser Verständnis der natürlichen Prozesse auf unserem Planeten nach wie vor begrenzt ist.

Bei der 27. Klimakonferenz im ägyptischen Sharm el-Sheikh machen Protestierende auf den Ernst der Lage aufmerksam. Protesten kommt laut der Sprecherin des Cliccs-Clusters besondere Bedeutung zu.
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Anders steht es um atmosphärische Phänomene und die Auswirkungen von Treibhausgasen. Hier ist das Bild inzwischen klar. Damit lässt sich auch vorhersagen, wie sich Veränderungen des Ausstoßes von CO2 und Methan auf die Erderwärmung auswirken werden. Und hier zeichnet sich seit längerem ab, dass die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad unrealistisch sein könnte.

Offizielle Prognosen gibt es dazu seit einigen Jahren vom Weltklimarat IPCC, der sich als Kommunikationsstelle für wissenschaftliche Evidenz zum Klimawandel versteht. Verschiedene mögliche Zukunftsszenarien geben Aufschluss über die zu erwartenden Folgen in Abhängigkeit von unserem Treibhausgasausstoß. Eines der Szenarien geht immer noch von einer kurzfristigen Überschreitung der Zieltemperatur und einem letztlichen Erreichen des 1,5-Grad-Ziels aus.

1,5 Grad nicht plausibel

Doch ein neuer Bericht des Hamburger Climate, Climatic Change and Society Clusters Cliccs, an dem über 60 Fachleute beteiligt waren, kommt nun zum Schluss, dass ein Erreichen dieses Ziels, trotz positiver Entwicklungen, inzwischen unplausibel ist. "Tatsächlich ist in Sachen Klimaschutz inzwischen einiges in Bewegung geraten. Aber wenn man sich die Entwicklung der gesellschaftlichen Prozesse im Detail ansieht, ist eine Begrenzung der Erderwärmung auf unter 1,5 Grad immer noch nicht plausibel", sagt Cliccs-Sprecherin Anita Engels.

Zwar gebe es positive Entwicklungen, etwa die Klimapolitik der Vereinten Nationen und den voranschreitenden Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. Doch das genüge nicht, weil der gesellschaftliche Wandel nicht schnell genug voranschreite. Vor allem das Konsumverhalten und die Reaktionen von Unternehmen würden dringend benötigte Maßnahmen verlangsamen. Die Rolle der Medien sei ambivalent: Manche hätten im betrachteten Rahmen einen positiven Effekt, manche einen negativen. "Die erforderliche tiefgreifende Dekarbonisierung geht einfach zu langsam voran", sagt Engels.

UN-Generalsekretär António Guterres findet meist drastische Worte, um vor dem Klimawandel zu warnen, den er unter anderem als "Highway to Hell" bezeichnete. Die Aktivitäten der Uno wurden in der nun veröffentlichten Arbeit ebenfalls berücksichtigt.
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Das Besondere an dem nun nach 2021 zum zweiten Mal erschienenen "Hamburg Climate Futures Outlook" ist sein technoökonomischer Fokus, der auch gesellschaftliche Entwicklungen abbildet und in einem genau definierten Rahmen die Plausibilität verschiedener Szenarien durchspielt. Dabei berücksichtigte man die Klimapolitik der Uno, die Gesetzgebung zum Klimaschutz, soziale Bewegungen und Proteste, transnationale Initiativen, Klagen vor Gericht, Konsumverhalten sowie den Abzug von Investitionen aus der fossilen Wirtschaft.

Kipppunkte erst später relevant

Neue Informationen gibt es zu den Kipppunkten. Deren kurzfristige Bedeutung stellt der Bericht infrage. Die häufig diskutierte Eisschmelze sei zwar ein ernstes Problem, habe bis 2050 aber geringen Einfluss auf die globale Temperatur. "Auftauender Permafrost, geschwächte atlantische meridionale Umwälzzirkulation und der Verlust des Amazonaswaldes sind wichtigere Faktoren", sagt der Co-Sprecher von Cliccs, Jochem Marotzke. Doch auch ihr Einfluss halte sich kurzfristig in Grenzen.

Der Bericht ist nicht die erste Warnung, das 1,5-Grad-Ziel könnte verfehlt werden. Doch in dieser Größenordnung sind die von Fachleuten offen genannten Zweifel am Erreichen des 1,5-Grad-Ziels, zu dem sich immerhin die 195 Teilnehmerstaaten 2015 im Rahmen der Klimakonferenz in Paris verpflichteten, neu.

Die Forschenden mahnen, man müsse jetzt beginnen, sich aktiv auf die Folgen einer stärkeren Erwärmung vorzubereiten. "Um für eine wärmere Welt gerüstet zu sein, müssen wir Veränderungen antizipieren, die Betroffenen mit ins Boot holen und das lokale Wissen nutzen. Anstatt nur zu reagieren, müssen wir hier und jetzt einen aktiven Wandel einleiten", sagt Cliccs-Sprecherin Engels.

Hoffnung auf Zwei-Grad-Ziel

Ist nun also, salopp gesagt, alles egal? Der Bericht widerspricht hier. Immerhin wurde in der Pariser Klimakonferenz auch der Wert von zwei Grad Celsius genannt. Die Erwärmung sollte "deutlich" darunter liegen. Das 2-Grad-Ziel könnte immer noch plausibel sein, wenn Lücken in Bezug auf die Ambition, die Umsetzung und das Wissen um Klimamaßnahmen geschlossen würden. Und jedes Zehntelgrad weniger Erderwärmung senkt das Risiko unumkehrbarer Entwicklungen.

Die Hoffnung liege in einem doch noch einsetzenden gesellschaftlichen Wandel. Notwendige Bedingungen dafür seien unter anderem staatenübergreifende Initiativen, die Arbeit von nichtstaatlichen Akteuren und nicht zuletzt, mittels Protesten den Druck auf die Politik aufrechtzuerhalten. (Reinhard Kleindl, 1.2.2023)