Erst waren es die Eisenbahner, dann das Pflegepersonal im Gesundheitswesen und die Sanitäter. Am Mittwoch standen dann Lehrerinnen und Lehrer im Mittelpunkt der beispiellosen Streikwelle, die Großbritannien seit Monaten erschüttert. Rund 85 Prozent der Staatsschulen in England und Wales blieben ganz geschlossen oder kümmerten sich lediglich um kleine, kurz vor wichtigen Prüfungen stehende Schülergruppen.

Lehrerinnen-Demo am Dienstag.
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Der konservative Premier Rishi Sunak blieb im Unterhaus indes bei seinem harten Kurs: Angesichts der noch immer zweistelligen Inflationsraten stünden die von den Gewerkschaften geforderten Gehaltserhöhungen außer Frage.

Größter Streik seit 30 Jahren

Rund eine halbe Million Menschen, vor allem im öffentlichen Dienst, beteiligten sich am größten koordinierten Warnstreik der vergangenen 30 Jahre. Zu ihnen zählten Lehrende an Universitäten, Angestellte in 124 Regierungsbehörden – darunter auch dem Ministerium von Finanzminister Jeremy Hunt – sowie die Lokführer in vielen privatisierten Eisenbahnunternehmen. In den Häfen von Dover und Dünkirchen sorgten streikende Grenzschützer für lange Lkw-Staus, in großen Museen wie dem weltberühmten British Museum herrschte Personalnot.

Für die Eltern schulpflichtiger Kinder dürfte die Rückkehr ins Homeoffice zur Bespaßung des Nachwuchses in den kommenden Wochen zur Routine werden. Im Februar und März plant die Gewerkschaft weitere sechs Streiktage – und nichts deutet einstweilen darauf hin, dass Bildungsministerin Gillian Keegan den Forderungen entgegenkommen will.

Im laufenden Finanzjahr erhalten Lehrerinnen und Lehrer mindestens fünf Prozent, die am schlechtesten bezahlten bis zu 8,9 Prozent mehr Gehalt. Angesichts der Inflationsrate von 10,5 Prozent – Lebensmittel wurden zuletzt sogar um 13,8 Prozent teurer – stellt dies einen Reallohnverlust dar. Die Bildungsgewerkschaft sowie ihre Pendants in anderen Branchen fordern für alle Mitglieder wenigstens einen Ausgleich der Teuerungsrate. Daneben geht es aber auch um Pensionskürzungen (Uni-Dozenten), schlechte Ausstattung am Arbeitsplatz (Schulen) und Sicherheitsanforderungen (Eisenbahn).

Schöne Worte und subtile Drohungen

Offenbar will die Regierung mit einer Mischung aus schönen Worten und subtilen Drohungen dem Konflikt den Sauerstoff entziehen. Die Bildungsministerin schwärmte am Mittwoch von ihrem "konstruktiven" Dialog mit der Gewerkschaft, was auf der Gegenseite heftiges Stirnrunzeln verursachte. Im konservativen "Times Radio" sprach Keegan aber auch pointiert über ein neues Gesetz, das derzeit vom Parlament beraten wird.

Dieses soll "Mindestservicestandards" festlegen; in systemrelevanten Branchen wie dem Gesundheitssystem NHS oder den Verkehrsbetrieben würde dadurch das Streikrecht erheblich eingeschränkt. So sieht es Mick Whelan von der Eisenbahnergewerkschaft Aslef: "Wenn man nicht streiken darf, wird man zum Sklaven." Während seine Mitglieder seit vier Jahren keine Lohnerhöhung erhalten hätten, "machen die 15 privatisierten Unternehmen Gewinne und zahlen Dividenden".

Rishi Sunak in der Kritik: Politiker oder Technokrat?
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Auffälligerweise beteiligten sich die NHS-Beschäftigten nicht an dem landesweiten Aktionstag, ihre Stunde schlägt erst wieder nächste Woche. Die Abstinenz könnte darin begründet sein, dass die Sympathie der Bevölkerung für das Anliegen von Krankenschwestern und Rettungswagenfahrern Umfragen zufolge deutlich höher liegt als für Lehrerinnen und Lokführer.

Drückende Probleme, verunsicherte Bevölkerung

Für Premier Sunak enden die ersten 100 Regierungstage diese Woche, wie sie begannen: mit drückenden ökonomischen Problemen, einer tief verunsicherten und verärgerten Bevölkerung – und, immerhin, der Aussicht auf eine Lösung des leidigen Nordirland-Problems. So meldete es am Mittwoch jedenfalls die "Times", ohne dass es von Regierungsseite oder aus Brüssel dafür eine Bestätigung gab.

Beim wöchentlichen Schlagabtausch im Unterhaus wies Oppositionsführer Keir Starmer nicht nur nachdrücklich auf die unappetitliche Steueraffäre um den erst spät entlassenen konservativen Generalsekretär Nadhim Zahawi hin. Der einstige Staatsanwalt setzte den Regierungschef auch mit den Mobbingvorwürfen gegen Vizepremier Dominic Raab unter Druck. Anders als Zahawi gehört der Justizminister – seit seiner Zeit im Foreign Office hinter vorgehaltener Hand als "dämlicher Dominik", englisch: Dim Dom, bekannt – zu Sunaks engsten Verbündeten.

Politiker oder Technokrat?

Davon gibt es nicht sehr viele. Selbst die wohlmeinende Website "Conservative Home" ("CH") stellte am Mittwoch provokativ die Frage, ob es sich bei dem 42-Jährigen eigentlich um einen Politiker handle oder nicht doch eher um einen Technokraten: "ein Familienmann, ein harter Arbeiter, sehr religiös, ordentlich, patriotisch, ernsthaft", wie "CH"-Chef Paul Goodman zusammenfasst. Die Frage aber, wofür die Konservativen eigentlich stünden, lasse der Partei- und Regierungschef offen.

Die Klage ist weitverbreitet – und wird von Sunaks illoyalen Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss heftig geschürt. Vor allem der Brexit-Vormann lässt dieser Tage keine Gelegenheit aus, dem ungeliebten Nachfolger auf die Füße zu treten.

Dieser verweist ungerührt auf seine Prioritäten: "die Inflation senken" und "die Wirtschaft ankurbeln" stehen dabei an erster Stelle. Angesichts des ungewissen Ausgangs der vielfältigen Streiks zu Jahresbeginn bleibt das eine gewaltige Aufgabe. (Sebastian Borger aus London, 1.2.2023)