Clemens J. Setz wäre es lieber, wir wären allein im Universum. Er glaubt es nur nicht.

Foto: Heribert Corn

Peter Bender, der Protagonist in Clemens J. Setz’ neuem, am 13. Februar erscheinendem Roman Monde vor der Landung, glaubt, die Menschheit lebe im Inneren der Weltkugel. Eigentlich müsste er es besser wissen. Aber auch seine eigenen Erfahrungen als Fliegerleutnant im Ersten Weltkrieg verhindern nicht, dass Bender sich selbst von der sogenannten Hohlwelttheorie überzeugt. Zwölf Jahre lang hat Clemens J. Setz die Lebensgeschichte Benders recherchiert und schließlich fiktionalisiert. Als umfassendes, einfühlsames und tragikomisches Porträt eines Menschen, der sich im Besitz der Wahrheit glaubt und vor lauter Hohlwelt den Bezug zur grausamen Realität des erstarkenden Antisemitismus, der nicht zuletzt seiner jüdischen Frau Charlotte und den gemeinsamen Kindern zusetzt, verliert.

Setz erzählt aber nicht nur die Geschichte eines kuriosen Weltbilds, sondern gibt vor allem Einblick in Selbstbild und Psyche eines Mannes, den man heute wohl als "Schwurbler" bezeichnen würde. "Die Komplexität des Querdenkens" dazustellen war dem Autor wichtig, wie er erzählt.

STANDARD: Ich habe gelesen, dass Sie als Jugendlicher bereits fasziniert von Verschwörungstheorien waren. Galt Ihr Interesse dem Phänomen an sich, oder haben Sie auch gewisse Dinge geglaubt?

Setz: Hauptsächlich habe ich an Ufos geglaubt, und das tue ich heute noch. Ich war süchtig nach Dokumentationen und Amateurvideos. Es war eine ästhetische Faszination, ähnlich wie wenn man gute Musik hört. Wie es immer ist, wenn man etwas genießt, will man dann auch mehr darüber erfahren. Nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema bin ich gegen meinen Wunsch und meine Intuition überzeugt worden, dass es eine außerirdische Intelligenz gibt. Das ist total absurd, und es irritiert Menschen sehr, wenn ich das sage. Ich versuche aber nicht, irgendjemanden zu bekehren. Mir wäre ja auch lieber, wir wären allein im Universum.

STANDARD: Warum?

Setz: Jemand, der die Technologie hat, zu uns zu kommen, hat auch andere Technologien, gegen die wir vollkommen hilflos sind. Aber vielleicht denke ich da auch zu menschlich, im Sinne, dass ich es damit vergleiche, was wir Menschen mit dieser Technologie tun würden. Eventuell sind die Außerirdischen gar nicht brutal.

STANDARD: Inwiefern interessiert Sie das Thema als Autor?

Setz: Als Autor ist mein Interesse hauptsächlich ein psychologisches. Es geht mir um das Phänomen der kognitiven Dissonanz: Du siehst beispielsweise ein Video mit dir unbekannten metallenen Objekten und sagst dir aber sofort: "Das muss etwas Bekanntes sein." Das ist kognitive Dissonanz. Dann lebst du auch noch in einer Kultur, in der es nicht als normal gilt, zu sagen, dass du etwas Ungewöhnliches gesehen hast. Piloten sehen beispielsweise täglich Objekte und melden sie nicht oder nur manchmal, weil sie wissen, dass es nichts bringt, darüber zu reden. Du bist also in einer Situation, in der du etwas jeden Tag siehst, aber kulturell bedingt ausfiltern musst. Das fasziniert mich.

STANDARD: Kognitive Dissonanz spielt auch in Ihrem aktuellen Roman eine Rolle. Ihre Hauptfigur Peter Bender glaubt, die Menschheit lebe im Inneren der Weltkugel.

Setz: Bender war Pilot, hat also sinnlich erlebt, dass die Erde eine Kugel unter ihm ist. Trotzdem hat er es geschafft, sie konkav zu denken. Das ist schon ein Triumph, aber in eine so ungewöhnliche Richtung, dass es einem Angst machen kann. Es ist ja auch heute so, dass wissenschaftlich eine Sache gilt und große Teile der Bevölkerung etwas völlig anderes glauben. Wir sehen das in Krisenzeiten wie in der Corona-Epidemie oder beim Klimawandel.

STANDARD: Bender ist eine historische Figur, allerdings eine völlig unbekannte: Wie sind Sie auf ihn gestoßen?

Setz: Bender wurde in einem Nebensatz in einem Essay erwähnt, den ich 2010 gelesen habe. Im Internet war nichts über ihn zu finden, es hat mich aber nicht losgelassen, also habe ich immer mehr und mehr zusammengetragen: Archivmaterial, Briefe, psychologische Gutachten. Es war eine Explosion von ungeheuer interessanten Details über eine Person, die in einer völligen Parallelwelt lebt, aber funktional ist. Eine heroische, gefährliche, poetische, leichtsinnige Person. Wunderbar widersprüchlich auf allen Ebenen. Nach zwölf Jahren Skizzen und Recherche ist dieses Buch entstanden, und ich bin wirklich sehr froh, weil es die beste Geschichte ist, die mir je untergekommen ist.

STANDARD: Interessant, dass Sie sich schon so lange damit beschäftigen und das Buch zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem das Wort "Querdenken" in aller Munde ist.

Setz: Bender hatte eine extreme Abneigung gegen Leute, die die "Wahrheit nicht wissen", genauso wie heute Flat-Earth-Youtuber, die sich über die Primitivität ihrer Mitmenschen lustig machen. "Querdenkertum" ist ein radioaktives Wort, ein hässliches Wort. Aber die Parallelität ist gegeben, und es wäre gelogen, zu behaupten, ich hätte die aktuelle Situation nicht mitgedacht. Ich habe aber noch nichts gelesen, was die Komplexität des Querdenkens ausdrückt.

Clemens J. Setz, "Monde vor der Landung". € 25,70 / 528 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2023. Erscheinungstermin: 13.2.2023

STANDARD: Worin besteht diese Komplexität?

Setz: Nehmen wir jemanden, der Leuten von der Impfung abrät und dadurch Leben gefährdet. Er tut es, weil ihm Menschen wichtig genug sind, dass er sie erstens retten will und zweitens den eigenen Gesichtsverlust in Kauf nimmt. An sich eine Art von Heroismus, wenn auch falsch eingesetzt. Man kann aber so jemanden nicht auf "böser Mensch, Trottel" reduzieren. Mich interessiert alles, was "messy" ist, und ich denke für "messiness" ist der Roman die adäquate Darstellungsform. Ich kann mir kein anderes Medium vorstellen, in dem man zum Beispiel die Geschichte eines Paars erzählen kann, das die Beobachtung gemacht zu haben glaubt, sein Kind habe aufgrund einer seltenen Impfreaktion einen Hirnschaden erlitten und zeige seither autistische Verhaltensweisen. Tatsächlich kenne ich so eine Familie. Die hat das Problem, dass sie sich nicht von diesen radikalen Impfgegnern vereinnahmen lassen will, deren Rhetorik sie anekelt. Gleichzeitig kann die Familie nicht offen über ihre Geschichte reden, weil sie dann sofort mit diesen Leuten in Verbindung gebracht wird, also erzählt sie sogar in der Schule des Kindes, dass der Grund für dessen Behinderung ein anderer war. Für so eine Geschichte ist der Roman die einzige Arena, und es ist die ethische Aufgabe des Schriftstellers, so etwas in seiner ganzen Komplexität darzustellen. Im Falle dieser Geschichte würde das meine Fähigkeiten übersteigen, aber ich bin mir sicher, dass es jemand kann.

STANDARD: Es mag sein, dass es jemand kann. Wenn man aber als Autor, der sich grundsätzlich für "messiness" interessiert, so ein Buch in einer Zeit schreibt, in der gerade eine aufgeheizte Impfdebatte wütet, wird man sich als dieser Autor schon den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass...

Setz: ... man einen Diskurs reitet. Es ist sicher eine Frage des Timings. In so einem Fall würde, auch wenn man keine besonders provokativen Absichten hat, das Timing die Geschichte unsichtbar machen, das stimmt. Wenn drei Tage nach 9/11 eine feinfühlige Analyse über einen radikalisierten muslimischen Attentäter erscheint, um es jetzt plakativ zu sagen, ist dafür kein Platz.

STANDARD: Die Frage des Wann ist nicht uninteressant. Wann eine Geschichte erzählen?

Setz: Meistens ist ja Distanz schon gut, eine gesellschaftliche und eine persönliche, allein weil man aus der Distanz weniger predigt. Distanz sorgt dafür, dass man ein Thema besitzt. Klassischer Fall: Leute ziehen aus einer Stadt weg und schreiben erst dann über die Stadt.

STANDARD: Sie sind aber überzeugt, dass man alle Geschichten erzählen kann?

Setz: Man soll und muss, und das ist ganz wichtig und richtig im Leben. Ich weiß, das klingt immer sehr romantisch abgehoben, aber um zu verstehen, warum ich das so sehe, muss man wissen: Literatur ist halt mein einziges Hobby. Ich schaue kaum Filme, gehe auch nicht ins Theater und beziehe Geschichten kaum aus anderen Medien. Das heißt, die Literatur muss besonders viel stemmen. Für andere Menschen macht das vielleicht die Religion oder ihre Beziehung, bei mir macht das die Literatur. Mit meinen Freunden rede ich auch nicht über Ufos. Die bekommen von mir immer nur "Lies das, lies das" zu hören. (Amira Ben Saoud, 5.2.2023)