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"Alles in Washington ist Theater", hat Santos in einem Fernsehinterview gesagt. Er selbst hat viele Details seines Lebenslaufs erfunden.

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Das Warten hat sich gelohnt. Drei Stunden haben die Reporter vor dem Raum 1117 im Erdgeschoß des Longworth-Bürogebäudes auf dem Kapitol ausgeharrt. Sie haben beobachtet, wie Mitarbeiter kamen und gingen und Besuchergruppen Selfies vor dem Namensschild des derzeit berühmtesten Abgeordneten im US-Kongress schossen. Da endlich öffnet sich die Holztür neben der US-amerikanischen Flagge – und George Santos tritt heraus.

Der 34-Jährige mit der markanten Brille und dem charakteristischen Pulli unterm Anzugsjackett hat es eilig. Jedenfalls tut er so. Mit entschlossenem Schritt steuert er quer über den Gang in Richtung Aufzug – doch nur so schnell, dass der Kameramann eines Fernsehsenders mithalten kann. Gerne beantwortet er im Gehen auch Journalistenfragen. Sein Büroleiter lächelt: Der talentierte Mister Santos, der sein ganzes Leben erfunden und es bis in den Kongress geschafft hat, ist längst zur Kultfigur der Late-Night-Shows geworden. Da kann frische Publicity nie schaden.

Doch plötzlich bleibt Santos stehen. Eine Reporterin hat ihn nach seiner Mutter gefragt. Die war angeblich als Tochter jüdischer Holocaust-Überlebender in die USA gekommen und beim Terroranschlag auf das World Trade Center 2001 verstorben. Eine herzzerreißende Geschichte. So jedenfalls hatte es Santos im Wahlkampf erzählt. Tatsächlich waren die Vorfahren weder Juden noch Exilanten, die Mutter hielt sich am schicksalhaften 11. September in Brasilien auf und starb erst 15 Jahre später.

Schauspiel vor dem Aufzug

Unter diesen Umständen erscheinen ein paar Fragen nicht unziemlich. Wie auf Knopfdruck aber entrüstet sich der Abgeordnete. "Wollen Sie, dass ich so über Ihre verstorbene Mutter spreche?", fährt er die Reporterin an. Seine Stimme wird lauter: "Sie verhöhnen das Andenken meiner Mutter." Das Interview ist beendet. Er sagt jetzt nichts mehr. Demonstrativ aufgewühlt dreht er sich zur Aufzugstür.

Das Medieninteresse an George Santos ist momentan groß.
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Die Empörungsszene ist typisch für einen Mann, der chamäleonhaft jede Rolle annehmen und spielen kann. Mal nannte er sich in der Vergangenheit George Santos, mal Anthony Devolder. Nach eigenen Angaben ist er schwul, war aber schon mit einer Frau verheiratet und trat mutmaßlich unter dem Namen "Kitara Ravache" als Dragqueen auf. Seine Herkunft, seine Religion, sein Studium, seine Tätigkeit als Investmentbanker bei Top-Wall-Street-Firmen, sein Vermögen – alles hat er erlogen. Für einen Schneeballfinanzvertrieb hat er mit hohlen Versprechungen Kunden über den Tisch gezogen. Auf Trumps großer "Stop the Steal"-Demonstration am 6. Jänner 2021 trug er den gestohlenen Burberry-Schal eines Mitbewohners.

Karikatur eines Tellerwäschertraums

Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Hochstapler ist eine aberwitzige Karikatur des US-amerikanischen Tellerwäschertraums. Und doch sitzt er seit nunmehr einem Monat für die Republikaner im Repräsentantenhaus.

Seine Mandate in zwei Ausschüssen hat Santos angesichts der täglich befremdlicheren Enthüllungen inzwischen verloren. Aber Abgeordneter darf er bleiben. Die hauchdünne Mehrheit der Republikaner, die Parlamentschef Kevin McCarthy zum Regieren braucht, ist seine politische Lebensversicherung. Bei einer Neuwahl würde die Partei den traditionell demokratischen Wahlkreis auf Long Island östlich von Manhattan sicher verlieren. Dort fordern inzwischen 78 Prozent der Wähler den Rücktritt ihres Abgeordneten. Aber Santos denkt nicht daran. "Ich habe die Umfrage nicht in Auftrag gegeben", kontert er kühl.

Spenden für todkranken Hund, Firma ohne Kunden

Erst in zwei Jahren können sich die Wähler wehren. Doch nun gibt es Hoffnung, dass Justiz und Börsenaufsicht der bizarren Posse vorher ein Ende bereiten. Das FBI ermittelt mittlerweile nicht nur wegen einer von Santos 2016 gestarteten Internetspendensammelaktion für die Operation des todkranken Hundes eines Obdachlosen, deren Ertrag von 3.000 US-Dollar der vorgebliche Tierschützer einfach einstrich, worauf der Hund verstarb. Vor allem seine frühere Firma Devolder Organization, die angeblich 80 Millionen Dollar Anlagekapital managte und ihm Dividenden von einer bis fünf Millionen Dollar zahlte, rückt in den Fokus der Ermittler. In deren Büchern finden sich nämlich keine Kunden.

Damit stellt sich die Frage, woher jene 700.000 Dollar kamen, die Santos angeblich aus eigener Tasche an seine Kampagne für die Kongresswahl spendete. Auch deren Finanzen sind obskur: Das Magazin "Mother Jones" hat recherchiert, dass einige aufgelistete Spender gar nicht existieren, und der Wirtschaftsdienst Bloomberg vermutet verdeckte Geldflüsse aus der Kryptobranche. Bei den Ausgaben wiederum tauchen verdächtig häufig Einzelposten von 199,99 Dollar auf, die exakt einen Cent unter der Beleggrenze liegen.

Schatzmeisterin kündigt

Erläutern könnte das möglicherweise Nancy Marks, die für Santos bereits seit dessen erster Kongresskandidatur im Jahr 2020 als Schatzmeisterin tätig war. Doch die hat der Wahlkampfbehörde in der vorigen Woche mitgeteilt, dass sie den Job niederlegt. Der von Santos benannte Nachfolger beteuert, von seiner Berufung nichts zu wissen, und winkt energisch ab. So ist derzeit nicht klar, wer für die Finanzen des Abgeordneten zuständig ist – und mit welchem Geld wohl die Donuts bezahlt wurden, die Santos neulich für die vor seiner Tür wartenden Journalisten bereitgestellt hat.

Ganz bestimmt hat Santos auch dafür eine Erklärung. Und er wird sie im Brustton der Überzeugung vortragen. "Alles in Washington ist Theater", hat er Anfang der Woche unfreiwillig entlarvend in einem Fernsehinterview gesagt. "Das ist traurig", schob er nach, "weil das alles auf Kosten des amerikanischen Steuerzahlers geht." Der dreisteste Politikerdarsteller des Landes schaffte es tatsächlich, dabei keine Miene zu verziehen. (Karl Doemens aus Washington, 2.2.2023)