Es ist eine wissenschaftliche Sensation: Forschende haben Eis geschaffen, das die Eigenschaften von gefrorenem Wasser hat. Nein, das ist nicht selbstverständlich, sondern eine völlig neue Entdeckung, die helfen kann, die wahre Natur des Wassers zu verstehen und mehr über die Monde von Jupiter und Saturn zu erfahren. Aber alles der Reihe nach.

Über 20 Arten von Eis ließen sich bisher unterscheiden, die entweder dichter oder weniger dicht sind als Wasser.
Foto: imago images/IlluPics

Wasser ist eine der sonderbarsten Substanzen im Universum. Normalerweise sind feste Stoffe dichter und damit im Verhältnis schwerer als flüssige, doch Eis ist leichter als flüssiges Wasser und schwimmt darauf. Der Grund ist die sogenannte Dichteanomalie – Wasser ist bei vier Grad Celsius am schwersten, bezogen auf sein Volumen. Diese Eigenschaft ist entscheidend für das Leben in den Ozeanen der Erde, weil das Wasser in der Tiefe eine gewisse Temperatur nie unterschreitet.

Doch auch Eis verhält sich ungewöhnlich, wie wir jeden Winter beim Skifahren oder Eislaufen (und manche von uns bevorzugt vor dem Fernseher bei Sportübertragungen) nachprüfen können. Dass etwa Metall auf Eis so gut gleitet, ist nämlich nicht selbstverständlich. Die in der Schule gelehrte Erklärung vom rutschigen Wasserfilm ist bestenfalls die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit handelt es sich um ein äußerst komplexes Oberflächenphänomen, bei dem sich ein dünner Wasserfilm in eine Substanz ähnlich von Crushed Ice verwandelt, der wir sowohl unsere Skiurlaube als auch den Nervenkitzel bei Skirennen verdanken. Als wäre Eis nicht schon sonderbar genug, ging ein Forschungsteam nun einen Schritt weiter und erzeugte eine extrem dünne Eisschicht, die an Ungewöhnlichkeit sogar das bekannte Eis in den Schatten stellt.

In molekularer Hinsicht ähnelt die neue dünne Eisschicht eher Glas als Wassereis. Während Eis großteils eine geordnete Kristallstruktur aufweist, also kristallin ist, wovon die wunderschöne Ordnung von Schneekristallen zeugt, ist Glas "amorph", besteht also aus ungeordneten Molekülen wie eine Flüssigkeit und kann sogar sehr langsam fließen.

Zerrieben von Kugeln

Diese Eigenschaft teilt es mit dem nun erzeugten Eis, das ein Forschungsteam nun im Fachjournal "Science" vorstellte. Zur Erzeugung der faszinierenden Substanz nutzte das Forschungsteam eine Technik namens "ball milling", was übersetzt etwa "kugelmahlen" bedeutet, bei der Eiskristalle mittels Metallkugeln in einem Gefäß in winzige Stücke zerrieben werden. Diese Technik wurde bereits bei anderen kristallinen Stoffen angewandt, um amorphe Varianten davon zu erzeugen, doch noch nie bei Eis. Die Forschenden nannten die neue Substanz "Medium Density Amorphous Ice", zu deutsch amorphes Eis mittlerer Dichte, kurz MDA.

Im Bild rechts ist die Struktur von gewöhnlichem Eis dargestellt. Gut sichtbar sind die großen Lücken, die Eis so leicht machen. Im Vergleich dazu ist links das nun erzeugte Eis dargestellt, das in seiner Struktur flüssigem Wasser ähnelt.
Bild: University of Cambridge

Um zu verstehen, was sie da eigentlich genau getan hatten, reproduzierten die Forschenden den Prozess mit Computersimulationen. "Unsere Entdeckung von MDA wirft viele Fragen über die Natur von flüssigem Wasser auf", sagt Co-Autor Michael Davies, der die Modelle für die Berechnung entwickelt hat. Es sei deshalb besonders wichtig gewesen, die genaue atomare Struktur von MDA zu verstehen. Das Resultat war verblüffend: "Wir haben bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen MDA und flüssigem Wasser gefunden", berichtet Davies.

Verschiedene Formen von Eis

Das ist insofern außergewöhnlich, als es sich bei MDA nicht um das erste amorphe Eis handelt, das im Labor erzeugt werden konnte. Insgesamt lassen sich etwa 20 Formen von Eis unterscheiden, einige davon amorph. Andere Varianten amorphen Eises hatten sich als leichter, also Eis-ähnlicher, oder aber als schwerer als flüssiges Wasser herausgestellt. Letzteres ist möglich, weil sich unbewegliche Moleküle dichter packen lassen als bewegliche, wie man es eigentlich bei Feststoffen erwartet. Erstaunlich bei MDA ist, dass es in seiner Dichte flüssigem Wasser ähnelt. In gewisser Weise wirkt das neue Material, als sei das flüssige Wasser in seiner Bewegung erstarrt wie ein "eingefrorenes" Standbild.

Das sei völlig neu, betont Christoph Salzmann, der in London forscht, und neben Alfred Amon einer von zwei an der Studie beteiligten Österreichern ist. Amon entwickelte die verwendete Dichtemessung und forschte im Rahmen eines Erwin-Schrödinger-Auslandsstipendiums des Wissenschaftsfonds FWF, die Herstellung des Eises geschah in Salzmanns Labor. "Die gängige Meinung war, dass es innerhalb dieser Dichtelücke kein Eis gibt. Unsere Studie zeigt, dass die Dichte von MDA genau in dieser Dichtelücke liegt, und diese Erkenntnis könnte weitreichende Folgen für unser Verständnis von flüssigem Wasser und seinen vielen Anomalien haben", sagt Salzmann.

Bisherige Erklärungen für die spezielle Dichte von Wasser, die zwischen jener von amorphem Eis hoher Dichte und kristallinem Eis liegt, gehen davon aus, dass Wasser eigentlich aus zwei Flüssigkeiten besteht, einer von hoher Dichte wie bisher bekanntes amorphes Eis und einer mit niedriger Dichte wie kristallines Eis. Das nun erzeugte Eis könnte es als Momentaufnahme von flüssigem Wasser erlauben, diese These zu überprüfen.

Ein weiterer faszinierender Effekt konnte nachgewiesen werden: MDA kann zu normalem Eis gefrieren, setzt dabei aber große Mengen Wärme frei.

Auftreten in der Natur?

Durch den Beweis, dass MDA im Labor hergestellt werden kann, stellt sich auch die Frage, ob und wo es in der Natur vorkommen könnte. Letzteres wollen die Forschenden nicht ausschließen. Sie konnten zeigen, dass es Scherkräfte sind, die MDA entstehen lassen. Solche könnte es auch auf den Eismonden im äußeren Sonnensystem geben, wo etwa der Mond Europa starken Gezeitenkräften des nahen Jupiter ausgesetzt ist, die den dicken Eisschild laufend gewissermaßen durchkneten. Dabei könnte die erwähnte Wärmefreisetzung eine Rolle spielen, mutmaßen die Forschenden.

Auch auf den Eismonden wie dem Jupidermond Ganymed könnte das nun gefundene Eis vorkommen und eine Rolle bei tektonischen Prozessen spielen.
NASA

MDA in den Weiten des Alls zu finden ist nicht völlig abwegig. Angelos Michaelides von der Universität Cambridge betont, dass amorphes Eis im Allgemeinen die Form ist, in der Wasser im Universum am häufigsten anzutreffen ist. Wie viel davon MDA ist und welche Rolle es spielt, wird Gegenstand künftiger Forschungen sein.

In gewisser Hinsicht ist das nun erzeugte Eis aber normaler als konventionelles Eis: Schwimmen würde es dank der höheren Dichte nicht. Genau wie man es von einem Feststoff eigentlich erwarten würde. (Reinhard Kleindl, 4.2.2023)