Sie ist wieder daheim. In Nowowolynsk in der Westukraine. Sie sitzt in einem Café in ihrer Heimatstadt, trinkt Caffè Latte. In Uniform, Tarnfleck, Schnürstiefeln, ein Abzeichen am Arm – ein grünes Kreuz mit einem Ährenkranz und dem ukrainischen Dreizack im Zentrum. Alina Panina ist Beamtin der Grenztruppen. "Was wir machen, ist, zu schauen, dass nichts Illegales ins Land kommt", sagt sie und grinst. In Zeiten wie diesen bedeutet das: Sie ist Soldatin.

Im vergangenen Frühjahr wurde das Werk Asow-Stahl von russischen Armee-Einheiten belagert und eingenommen. Alina Panina war in den Bunkern als Sanitätshelferin tätig.
Foto: Stefan Schocher

Als sie wegging aus Nowowolynsk, war die Welt eine andere. Da hatte es auch noch keine breit angelegte russische Invasion gegeben. Da war ihr Mann noch an ihrer Seite. Sie hatte zwei Hunde. Vor mehr als einem Jahr war das. Ihr Mann ist nicht da an diesem Tag. Ihre zwei Hunde sind irgendwo in der Ostukraine. Und das Jahr, das hinter ihr liegt, das war eine Odyssee durch diesen Krieg.

Bericht aus einem anderen Leben

Nowowolynsk ist ein Nest. Eine kleine Stadt, umgeben von Feldern, Wäldern und Kohleminen im Westen der Ukraine. Zwei Ampeln, Läden, ein Wochenmarkt. Nach Polen ist es von hier ein Katzensprung über den Fluss Bug. Und wenn Alina Panina hier Kaffee trinkt und vom Krieg erzählt, dann wirkt das, als erstatte sie Bericht. Sie nennt Daten und Wegpunkte, spricht darüber, wie man sie gefesselt und mit verbundenen Augen hin und her verfrachtet habe, als ginge es nicht um sie selbst. Dazwischen bestellt sie Pizza, und nur wenn sie über den Gestank spricht in den Bunkern, über den Geruch von verwesendem Fleisch und über maskierte Wärter, macht sie Pausen.

Eine Abwechslung hätte Mariupol sein sollen. Eine berufliche Veränderung: Schiffe sollten sie und ihr Mann dort kontrollieren, anstatt in der Schlange stehende Autos. Arbeit, Spaziergänge mit den Hunden am Meer – das war der Plan. Doch daraus wurde nichts. "Ich habe nicht gedacht, dass ich in der Lage wäre, einen Menschen zu töten – aber irgendwann habe ich keine Reue mehr gefühlt", sagt sie. Denn: "Wenn man leben möchte, tut man alles." In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 hatte sie Dienst. Keine Schiffe kamen in dieser Nacht. Aber Raketen. "Ich dachte, das ist das Ende der Welt."

Kampf um Mariupol

In Mariupol scheiterten im Mai 2014 Russlands Versuche, sich die gesamte Ostukraine einzuverleiben. In Mariupol wurde gekämpft. Die russische Artillerie beschoss Mariupol. Die Stadt hielt stand. In den Jahren darauf blieb Mariupol Frontstadt. Wenn geschossen wurde an der Frontlinie zu den russisch besetzten Gebieten, hörte man das in Mariupol. Mitunter sah man Rauchsäulen. Wenn man Mariupol nach Osten hin verließ, vorbei an Stahlwerken und Industriezonen, waren damals schon die ersten Dörfer nach der Stadt verwaist.

Es waren eben genau diese gigantischen Industriekomplexe, die Mariupols Verteidigung gegen Osten waren: eine Kette an Industrie, von Asowmasch im Norden über Illich in der Mitte bis Asow-Stahl im Süden an der Küste – Fabriken, so groß wie Städte. Fabriken mit Bunkern, die acht Geschoße tief unter die Erde reichen, weil in Sowjetzeiten dort Waffen produziert wurden.

Sanitätshelferin im Bunker

Alina Panina kennt sie alle. In Asowmasch hat sie gekämpft. In Illich war ihr Mann. Am 12. April 2022 hatte er sie von dort aus angerufen und gesagt, dass sie aufgeben müssten. Das war das letzte Mal, dass sie ihn gehört hat. Illich wurde von den Russen eingenommen. Und da sei klar gewesen, dass auch Asowmasch geräumt werden müsse. Sie schnappten sich ein paar Autos, malten die Buchstaben Z darauf und fuhren los – nach Asow-Stahl, das bereits von Russen umstellt war. Sie seien sogar von russischen Soldaten kontrolliert, aber nicht erkannt worden, erzählt Alina Panina. "Sie haben uns für Russen gehalten und durchgewunken", erzählt sie.

Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die russische Armee Mariupol zerstören würde. Das letzte internationale Medienteam hatte die Stadt verlassen. Das Theater, das als ziviler Bunker gedient hatte, war einen Monat zuvor bombardiert worden. Aber damals gab es die Hoffnung und das Versprechen auf einen Entsatz, die Hoffnung auf eine Evakuierung.

Tote, so viele Tote seien da gewesen, erzählt Alina Panina. Mindestens 1000 ukrainische Soldaten seien während der Belagerung im Stahlwerk Asow-Stahl gefallen. Alina war in den Bunkern als Sanitätshelferin tätig. Aber viel zu versorgen gab es nicht: keine Medikamente, kein Verbandszeug, keine Nahrung.

Auf dem Fabriksgelände von Asow-Stahl gibt es mehrstöckige unterirdische Bunkeranlagen.
Foto: AP

Gefangen im eigenen Land

Am 17. Mai 2022 war klar, dass der versprochene Befreiungsschlag nicht kommen, dass es keine Luftbrücke geben werde. Sie gaben auf. Als eine von acht Frauen, die bis zuletzt durchgehalten hatten, wurde sie nach Oleniwka in der Ostukraine, in russisch besetztem Gebiet, gebracht. Ein Lager, ein ehemaliges Gefängnis. Sie erzählt: sechs Frauen pro Zelle, zwei Frauen pro Liege, das WC in der Zelle, zehn Minuten Frischluft pro Tag, verschmutztes Wasser zum Trinken und täglich dasselbe zu essen – Buchweizen, Erdäpfel, Fisch.

Dazu russisches Radio: Die Ukraine gebe es nicht mehr, Teile seien von Polen besetzt worden, Kiew sei gefallen. Die Botschaft ihrer Wärter: "Es gibt keinen Ort, an den du zurückkehren kannst." Und Verhöre: Immer und immer wieder die Frage, ob sie Scharfschützin gewesen sei. Sie solle es doch zugeben. In der russischen Armee sind Frauen in erster Linie Scharfschützinnen. Dazu ständige Aufrufe, doch die Seiten zu wechseln.

Russischer Pseudostaat

"Ich werde dich immer mit Brot und Salz begrüßen, aber eben auch mit Geschenken, die du nicht mögen wirst." Das war ihre Antwort darauf, wie sie sagt. Sie grinst. Bewacht worden sei das Lager von Russen und von Wachen des russischen Pseudostaates in der Ostukraine, der DNR ("Volksrepublik Donezk"). Die DNR-Leute hätten über das eine oder andere hinweggesehen, sogar so etwas wie "Hinweise auf Sympathie" erkennen lassen, erzählt Alina Panina. Die Russen hingegen habe sie nur maskiert gesehen. Die hätten sie wie Tiere behandelt.

Und dann explodierte am 29. Juli 2022 eine Baracke in Oleniwka. Mindestens 53 ukrainische Insassen des Lagers starben. Russland behauptete, das Lager sei von einer ukrainischen Rakete getroffen worden, ließ aber keine internationalen Ermittler zu dem Ort. Kiew behauptete dagegen, dass Russland selbst eine der Lagerbaracken mit Kriegsgefangenen gesprengt habe. Internationale Beobachter kamen aufgrund von verfügbarem Bildmaterial zu demselben Schluss. "Ich hab das Gebäude gesehen", sagt Alina Panina, "und ich kenne den Unterschied zwischen einem Gebäude, das von innen gesprengt wurde, und einem, das von einer Rakete getroffen wurde." Sie ist überzeugt: "Ein Raketen- oder Granattreffer war das nicht."

Am Sonntag konnte das Asow-Stahlwerk in Mariupol teilweise evakuiert werden. Das ukrainische Militär rettete mindestens 80 Menschen aus den verschütteten Bunkern. Die 75-Jährige Walentina ist eine von ihnen.
DER STANDARD

Austausch von Gefangenen

Im Herbst wurde sie schließlich nach Russland gebracht. Noch mehr Verhöre, noch mehr Fragen, noch mehr DNA-Proben. Viel will sie zu den Wochen in Russland nicht sagen. "Sehr hart" seien die Bedingungen dort gewesen. Schweigen. Eines Tages wurde sie um fünf Uhr morgens geweckt. Es war der 17. Oktober 2022. "Sie gaben uns Kleider, haben uns in ein Flugzeug gesetzt."

Wohin es ging, wusste sie nicht. Gefesselt und mit verbundenen Augen wurden sie auf Lkws verladen. Unter der Augenbinde konnte sie dennoch etwas erkennen: ein Straßenschild nach Tschonhar, einer Stadt an der Grenze zwischen der Halbinsel Krim und dem ukrainischen Festland. Dann andere Wegweiser: Saporischschja, Cherson ... Da sei ihr plötzlich klar gewesen: "Sie bringen uns nach Norden." Alina wurde ausgetauscht.

Verharren am Grenzübergang

Drei Monate ist das nun her. Sie hat wieder einen Job an einem der Grenzübergänge zu Polen, arbeitet sich mit ihrem neuen Hund, einem Cockerspaniel namens Chelsea, durch die täglichen Autokolonnen. Sie ist daheim in ihrer Stadt.

Aber nichts ist, wie es einmal war. Von ihrem Mann weiß sie nur, dass er wohl am Leben ist. Ukrainer, die im selben russischen Lager wie er waren und ausgetauscht wurden, hätten ihr das erzählt. Direkten Kontakt habe sie nicht. Sie hat versucht, wieder in den Osten zu gehen, um dort an der Front zu helfen – aber man habe ihr gesagt, sie solle erst einmal bleiben, wo sie ist. "Die Jungs kämpfen da draußen", sagt sie und nickt zur finsteren Hauptstraße hinter dem Fenster. Draußen regnet es. Schweigen. (Stefan Schocher aus Nowowolynsk, 5.2.2023)