Niederösterreichs designierter SPÖ-Chef Sven Hergovich (rechts) und sein scheidender Vorgänger Franz Schnabl.
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Er kommt ins Kaffeehaus, grüßt, setzt sich und schlägt die Speisekarte auf. Keinesfalls wolle er unhöflich sein, aber er habe noch nichts gegessen heute, sagt er. Es ist 17.34 Uhr. Seit Montag ist Sven Hergovich plötzlich bekannt, sein Terminkalender rappelvoll: Bundesparteichefin Pamela Rendi-Wagner hat er gestern getroffen, Wiens Bürgermeister Michael Ludwig wird ihn in eineinhalb Stunden empfangen, dazwischen hatte er unzählige Termine in St. Pölten. Dabei steht noch nicht einmal sein Team.

Volkswirt im Chefsessel

Wie schon bei seinen Fernsehauftritten an den Tagen zuvor trägt Hergovich einen dunkelblauen Anzug, dazu ein weißes Hemd, keine Krawatte – zu einer solchen greife er schon seit längerem kaum noch; aber entspannt ist er nicht. Er bestellt Cremespinat mit Röstkartoffeln und Spiegelei, dazu ein Glas Leitungswasser. Sonst nichts. Von Wegbegleitern wird er als verlässlich beschrieben, Draufgängertyp sei er keiner.

Am Montag wurde Hergovich zum Landesparteivorsitzenden der SPÖ Niederösterreich designiert. Das war keine spontane Idee. Die mächtigsten Roten in dem tiefschwarzen Bundesland hatten sich das bereits vor der Landtagswahl reiflich überlegt: Sollten die Sozialdemokraten abstürzen, wird Spitzenkandidat Franz Schnabl gehen müssen. Und der beste Mann, den man dann für den Chefsessel habe, sei Hergovich – ein 34-jähriger Volkswirt, der als smart, manierlich, angenehm und doch verschlagen genug gilt, um sein Gegenüber bei Verhandlungen über den Tisch zu ziehen. Aus SPÖ-Sicht also genau der Richtige für Koalitionsgespräche mit der immer noch mächtigen niederösterreichischen ÖVP.

Niederösterreichs Königsmacher

Die offizielle Erzählart lautet: Schnabl selbst habe Hergovich am Tag nach der Wahl als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Formal stimmt das auch, aber natürlich unter massivem Druck. Im Land ist Hergovich vor allem die Erfindung von Matthias Stadler, dem Bürgermeister von St. Pölten, und Markus Wieser, dem Präsidenten der niederösterreichischen Arbeiterkammer. Die bisher höchste politische Funktion Hergovichs war es, Bezirksvorsitzender der Jungen Generation Favoriten zu sein, der angepassteren der beiden roten Jugendorganisationen. Erfahrung in der Spitzenpolitik hat Hergovich keine. Er soll das Gesicht der Erneuerung sein – und durch seine höfliche Art der Brückenbauer zur ÖVP werden.

Im Kaffeehaus klappt er sich eine Serviette unter den Hemdkragen, das Essen kommt. Ein paar Meter entfernt spielt eine ambitionierte Pianistin Evergreens der Klassik für die Veranstaltung im Nebenraum. Hergovich lässt sich davon nicht beirren. "Die Sozialdemokratie ist dazu da, Menschen zu unterstützen, wenn es ihnen schlechtgeht", sagt er.

Kein Verständnis für Krisengewinner

Hergovich gilt eher als Vertreter des linken Flügels der SPÖ. Er spricht gerne darüber, dass es "stärkere Staatseingriffe" brauche – bei den Mieten oder auch im Energiesektor. "Für Krisengewinner habe ich kein Verständnis." Die SPÖ Niederösterreich müsse wieder ein klares Profil entwickeln, ist er überzeugt. Über die Bundespartei will er nicht reden. "Wenn jeder vor seiner eigenen Haustür kehrt, wird die ganze Straße sauber", sagt er. Hergovich möchte keinesfalls ein Politiker sein, der vor allem damit auffällt, dass er über andere schimpft – wohl mehr aus Prinzip, als weil er damit Rendi-Wagner stützt.

Hergovich ist aber auch grundsätzlich niemand, der Dinge unüberlegt tut oder impulsiv angeht. Frühere Arbeitskollegen sagen, wenn er etwas erreichen wolle, handle er nach Plan. Eigene politische Ambitionen habe er schon lange gehabt, die Übernahme der SPÖ Niederösterreich war nun die große Chance, die er ergriff – aber das dann doch recht überraschend.

Die allermeisten Menschen haben von Hergovich zumindest bis Montag noch nie gehört, in seiner Partei gilt er hingegen schon länger als Personalreverse – allerdings eher für ein Ministeramt, sollte die SPÖ irgendwann wieder Teil einer Bundesregierung sein. Auch im roten Wien galt er manchen als Zukunftshoffnung. Für die niederösterreichische SPÖ hatte ihn hingegen kaum jemand auf dem Schirm. Als Landeschef hat Hergovich auch einen Schönheitsfehler: Er ist Wiener.

Umzug nach St. Pölten

Er selbst würde das so natürlich nicht formulieren, zumindest nicht mehr seit Montag. "Niederösterreich ist meine Heimat", sagt er und zerteilt sein Spiegelei. Tatsächlich ist er im niederösterreichischen Korneuburg geboren. Dann aber in Wien-Favoriten aufgewachsen und in der Hauptstadt geblieben.

Mit Niederösterreich verbindet ihn jedenfalls sein letzter Arbeitgeber, das Arbeitsmarktservice – kurz: AMS – Niederösterreich. 2017 kam er als Vizechef, im Sommer 2018 stieg er dort zum Geschäftsführer auf. Doch selbst das AMS Niederösterreich hat seinen Sitz in Wien.

In Niederösterreich hat Hergovich noch nie gelebt – bis jetzt. Vergangene Weihnachten habe er mit seiner Lebensgefährtin den Entschluss gefasst, nach St. Pölten zu übersiedeln. Im Jänner hat er nun eine Wohnung gefunden, Mitte Februar wollen sie umziehen. Der Beschluss fiel, bevor – zumindest öffentlich – bekannt wurde, dass er die Landespartei übernimmt. "Ich möchte anhand von Arbeit und Inhalten bewertet werden, nicht aufgrund meiner Wohnadresse", sagt er dazu.

Nummer sicher

Auch ansonsten ist noch vieles neu für Hergovich. Wenn er spricht, denkt er nach, zögert, formuliert im Zweifelsfall noch einmal um, geht auf Nummer sicher. Die Politik ist eine Schlangengrube, das weiß er auch, ohne bis jetzt jemals selbst in der ersten politischen Reihe gestanden zu haben. Ein falsches Wort, und es kann schnell wieder vorbei sein.

Bevor er zum AMS kam, arbeitete Hergovich im Kabinett von Doris Bures, als sie Verkehrsministerin war; gemeinsam mit Alois Stöger wechselte er ins Sozialministerium. Dort fand er seine Leidenschaft für Arbeitsmarktpolitik. Er war einer der Erfinder der "Aktion 20.000", durch die staatlich geförderte Jobs für Langzeitarbeitslose über 50 geschaffen wurden. Aus dem Ministerkabinett wechselte er zum AMS, wo Hergovich direkt in die Geschäftsführung bestellt wurde – von einem Gremium, das sich aus Vertretern von Regierung, (roten) Arbeitnehmern und (schwarzen) Arbeitgebern zusammensetzt.

"Der Vergleich mit Sebastian Kurz ehrt und ärgert mich zugleich." Sven Hergovich

Im AMS Niederösterreich entwickelte er eine Idee, die nicht nur gut, sondern vor allem so schlau aufgesetzt war, dass sogar das US-Magazin New Yorker einen Journalisten nach Gramatneusiedl schickte, um darüber zu berichten. In jenem Ort, wo Paul Lazarsfeld die berühmte Sozialstudie Die Arbeitslosen von Marienthal durchführte, startete Hergovich ein Projekt, mit dem Langzeitarbeitslosigkeit quasi abgeschafft werden sollte – durch eine staatliche Jobgarantie. Dadurch konnte nicht nur die Arbeitslosenquote deutlich gesenkt werden, es steigt auch die Lebensqualität der Teilnehmenden, wie eine begleitende Studie der Universität Oxford zeigt.

Im Waldviertel wurde unter seiner Führung ein Ausbildungsprojekt für Jobs im Bereich Klimaschutz initiiert. Ursprünglich kommt Hergovich aus der Umweltschutzszene. Als Zivildiener und während des Studiums war er für Global 2000 tätig.

Möglicher Kandidat für den Bund?

Aber wie wird es mit Hergovich nun weitergehen? Was hat er vor? Kann der Mann, den manche Kommentatoren mit Sebastian Kurz vergleichen, gar die ganze SPÖ retten?

Zuerst geht es für Hergovich natürlich um einen Verhandlungserfolg in den Gesprächen mit der schwarzen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Er wolle den Beratungen nicht vorgreifen, aber natürlich interessiere er sich für die Bereiche Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, sagt er. Hergovich wolle Politik für "die arbeitenden Menschen" machen und dafür mit allen Parteien eine gute Gesprächsbasis finden – auch mit der FPÖ. Obwohl er manche Aussagen von Freiheitlichen für "schwer erträglich" halte – wie etwa jene Gottfried Waldhäusls, der Schülerinnen mit Migrationshintergrund erklärte, ohne sie wäre "Wien noch Wien". Die Äußerung sei "furchtbar" und "klar zu verurteilen".

Kompromisslösungen

Grundsätzlich ist Hergovich aber jemand, der abwägt. Er erzählt gerne, dass seine Familie väterlicherseits konservativ ist, mütterlicherseits hingegen "links". Da habe er gelernt, dass es oft nicht nur die eine Wahrheit gebe und "ein guter Kompromiss die beste Lösung sein kann". Er sagt: "Man kann nicht jeden, der eine andere Meinung hat, zum Trottel erklären. Jeder weiß aber natürlich, dass es auch Trottel auf unserer Welt gibt. Leider."

In der SPÖ gibt es einige, die in ihm auch einen potenziellen Bundesparteivorsitzenden sehen – zumindest irgendwann, insofern er sich nun in Niederösterreich bewährt.

Medientrainings habe er bisher noch kaum absolviert, sagt er. Ob ihn der Vergleich mit dem einst so erfolgreichen Kurz auch ehre? "Er ehrt und ärgert mich zugleich", sagt Hergovich. Einerseits habe er "ganz andere Themen und Inhalte", andererseits sei Kurz auch ein Politiker "mit bemerkenswertem handwerklichen Talent" gewesen. (Katharina Mittelstaedt, 5.2.2023)