Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Großbritannien fordern mehr Geld. Die Streiks gehen weiter.

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Verhärtete Fronten auf der Insel: Vor einem neuerlichen, diesmal 48 Stunden dauernden Ausstand von Pflegepersonal und Ambulanzfahrern im Nationalen Gesundheitssystem NHS hat Wirtschaftsminister Grant Shapps am Sonntag die Streikenden bezichtigt, sie setzten "das Leben von Patienten" aufs Spiel. Die Chefin der mächtigen Unite-Gewerkschaft bezichtigte den Minister der Lüge: Selbstverständlich würden Patienten in Lebensgefahr weiterhin versorgt, so Sharon Graham. Die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak müsse sich endlich zu neuen Lohnverhandlungen bereitfinden.

Der Berufsverband der Pflegekräfte (RCN) hatte im Dezember erstmals in seiner beinahe hundertjährigen Geschichte seine rund 300.000 Mitglieder in England und Wales zu Warnstreiks aufgerufen, Unite hat sich dem Arbeitskampf angeschlossen. Nach jahrelangen Einbußen der Reallöhne verlangen die Gewerkschaften im NHS Lohnzuwächse, die über der Inflationsrate von derzeit 10,6 Prozent liegen.

Noch weit auseinander

Gesundheitsminister Steve Barclay hat 4,75 Prozent mehr Lohn und Gehalt angeboten und stützt sich dabei auf die Einschätzung eines unabhängigen Gremiums. Dessen Experten arbeiten allerdings innerhalb enger Vorgaben, zu denen das Regierungsziel gehört, das Lohnniveau unter der Teuerungsrate zu halten. In der Privatwirtschaft gab es zuletzt Abschlüsse von durchschnittlich 6,6 Prozent.

Der Arbeitskampf von Krankenpersonal, Putzleuten und Sanitätern gehört zu einer Serie von Lohnstreits im öffentlichen Dienst. Vergangene Woche streikten auch Lehrer und Uni-Dozenten, Bedienstete von Behörden und Museen. Im Britischen Museum wollen Sicherheitsleute und Aufseher just in der kommenden Woche für fünf Tage die Arbeit niederlegen – während der einwöchigen Schulferien, in denen viele englische Eltern mit ihren Kindern Ausflüge nach London planen.

Die Streikwelle weckt Erinnerungen an die 1980er-Jahre, als die damalige Premierministerin Margaret Thatcher mit den militanten Gewerkschaften im Streit lag. Seither haben die Arbeitnehmer-Organisationen weitgehend ein Mauerblümchen-Dasein geführt, in den Boulevardblättern wurden Arbeitskämpfe häufig als letztes Aufbäumen obsoleter Dinosaurier denunziert. Das scheint sich zu ändern. Nicht nur verzeichnen die Gewerkschaften einigen Zulauf. In Befragungen von Marktforschern äußerten die Briten zuletzt regelmäßig Sympathie für die Anliegen der Streikenden, im Fall der NHS-Bediensteten sogar mit Zweidrittelmehrheit.

"Kollektives Achselzucken"

Von "Apathie im Königreich" schreibt der Politikprofessor Matthew Goodwin: Als vergangene Woche so viele Streikende wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr die Eisenbahnen lahmlegten sowie viele Schulen zur Schließung zwangen, habe die Nation "mit einem kollektiven Achselzucken" reagiert.

Nichts deutet einstweilen darauf hin, dass sich die Briten mehrheitlich der Meinung von Premier Sunak anschließen. Dieser spricht gebetsmühlenartig von seinen Prioritäten: Dazu gehören die rasche Senkung der Teuerungsrate und eine Ankurbelung der Volkswirtschaft. Dieser sagt der Internationale Währungsfonds als einzigem westlichem Industrieland für 2023 eine Schrumpfung um 0,6 Prozent voraus.

Wie wichtig wirtschaftliche Stabilität ist, daran erinnerte die Briten am Sonntag ein langer Essay von Sunaks Vorgängerin Liz Truss. Die Politikerin musste im Oktober nach lediglich 44 Tagen im Amt als Premierministerin zurücktreten. Schuld daran sei "das mächtige ökonomische Establishment" gewesen, klagt Truss im Sunday Telegraph. Nicht zuletzt konservative Parteifreunde verwiesen hingegen auf Truss’ waghalsiges Experiment, ausgerechnet höhere Einkommensklassen ohne jede Gegenfinanzierung steuerlich zu entlasten. Die Folge war ein Run aufs Pfund sowie der Beinahezusammenbruch milliardenschwerer Pensionskassen auf der Insel.

Klagen drohen

Während die gescheiterte Premierministerin wohl kaum bald in ein Regierungsamt zurückkehren wird, wollen die Beschäftigten im Gesundheitswesen am Mittwoch die gewohnte Arbeit wieder aufnehmen. Dafür streiken am Donnerstag die Physiotherapeuten. Am Freitag ruft die zuständige Gewerkschaft BMA nun auch die erfahrenen Krankenhausärzte ("consultants") zur Urabstimmung auf. Diese machen sich vor allem Sorgen um die Beschneidung von Pensionsrechten – ein Thema, das auch die Beschäftigten an den Hochschulen umtreibt. Für Donnerstag und Freitag haben Uni-Dozenten deshalb die Fortsetzung ihres Arbeitskampfes angekündigt.

Sollten die Arbeitgeber nicht einlenken, werden die Studierenden im Februar ihre Ausbilder noch seltener sehen als ohnehin schon. Den Hochschulen steht derzeit eine Klagewelle von 80.000 Leuten ins Haus, deren teure Ausbildung durch immer neue Lockdowns während der Pandemie unterbrochen worden ist. Für einen Bachelorkurs werden jährlich Gebühren von 10.298 Euro fällig, ein Master in Neurowissenschaften an der Londoner Elite-Uni UCL kostet 30.060 Euro. (Sebastian Borger aus London, 6.2.2023)