Ausbau von Wind- und Solarenergie, Klimaschutzgesetz, erneuerbare Wärme – viele klimapolitische Vorhaben wurden schon vor Jahren angekündigt, haben es aber noch nicht aufs Papier geschafft. Wo klemmt es in der österreichischen Klimapolitik? Im Interview spricht Reinhard Steurer, Klimapolitikprofessor an der Wiener Universität für Bodenkultur, über Blockierer, Tempo 100 – und warum er sich hinter die Proteste der Letzten Generation stellte.

STANDARD: Herr Steurer, Österreichs Politikerinnen und Politiker betonen oft die Vorreiterrolle Österreichs im Klimaschutz. Wo stehen wir wirklich?

Reinhard Steurer: Bei all der Kritik, die ich gleich äußern werde, muss ich vorwegschicken, dass die Klimapolitik seit 2020 deutlich besser geworden ist. Wir sehen schon eine Kehrtwende. Allerdings war das auch nicht allzu schwer, weil alles, was bis dahin passiert ist, ein Desaster war. Das lässt sich an den Emissionen ablesen: Österreich gehört zu den wenigen EU-Ländern, die es nicht geschafft haben, die Treibhausgasemissionen seit 1990 zu reduzieren. Wenn angesichts dessen von Vorreiter die Rede ist, wird es lächerlich.

STANDARD: Warum?

Steurer: Weil Zahlen zitiert werden, die zwar schön ausschauen, etwa der hohe Wasserkraftanteil an der Stromproduktion. Aber das, was relevant ist – die Treibhausgasemissionen –, wird verschwiegen. Blöderweise lassen sich viele Wähler:innen am Schmäh halten, weil man natürlich gerne hört, dass man etwas gut macht. Die Wahrheit hingegen ist unangenehm: nämlich dass wir die Klimapolitik bis 2020 komplett in den Sand gesetzt haben und die Kursänderung seither viel zu langsam ist. Wir verarschen uns gegenseitig und klopfen uns für einen Misserfolg auf die Schulter, der seinesgleichen sucht. Das ist nicht nur ein politisches Versäumnis, sondern ein Gesellschaftsversagen.

STANDARD: Österreich will bis 2040 klimaneutral werden. Ganz ehrlich: Kann sich das noch ausgehen?

Steurer: Mit ernsthaften politischen Maßnahmen könnten wir das ohne weiteres erreichen. Aber das würde eben eine andere Politik erfordern. So, wie im Moment Klimapolitik gemacht wird, kann man mit Sicherheit sagen: Das geht sich nie aus. Wir werden schon an den Zielen für 2030 scheitern. Warum? Weil wir dafür volle Entschlossenheit brauchen, einen Turbo in allen Belangen. Aber das sehen wir nicht. Wir sehen mächtige Akteure, die blockieren und bremsen, die eben nicht an einem Strang ziehen. Man kann ganz klar sagen: Die tollen Klimaziele für 2030 und 2040 sind derzeit eine Märchenerzählung, die fast allen gefällt, aber wie das bei Märchen so ist, hat die Erzählung ein großes Problem: Sie geht mit der klimapolitischen Realität nicht zusammen.

Anfang Jänner solidarisierten sich rund 40 Wissenschafterinnen und Wissenschafter mit den Protesten der Letzten Generation.
Foto: APA/Georg Hochmuth

STANDARD: Wo sehen Sie das größte Versäumnis?

Steurer: Das größte Versäumnis ist, wie so oft erwähnt, das fehlende Klimaschutzgesetz. Einige sagen zwar, es ist nicht so wichtig, wir machen Klimaschutz ohne Klimaschutzgesetz. Sie unterschätzen aber die Bedeutung des Rahmens, den das Gesetz geben könnte. Ohne Klimaschutzgesetz haben wir eine Emissionsunordnung. Wir sind im Blindflug Richtung Klimaneutralität unterwegs. Uns fehlen der Fahrplan und auch ein Korrekturmechanismus, der gewährleistet, dass wir auf diesem Fahrplan bleiben. Ich vergleiche das oft mit der Straßenverkehrsordnung: Wir haben ein Tempolimit – das sind die Ziele für 2030 und 2040. Wir haben Radarmessungen – das sind die Berichte des Umweltbundesamts zur Emissionsentwicklung. Aber wir haben keine Radarstrafen. Deshalb fahren wir bei den Emissionen einfach so schnell, wie es uns gefällt. Und wenn wir 2030 zu viele Emissionen haben, dann kommt eben die kollektive Radarstrafe – nämlich vier bis sieben Milliarden, die aus heutiger Sicht für Emissionszertifikate fällig werden. Nur dass eben wir alle bezahlen und nicht diejenigen, die für die Übertretung hauptverantwortlich sind.

STANDARD: Wer müsste bezahlen, wenn es ein Klimaschutzgesetz gäbe?

Steurer: Ein vernünftiges Klimaschutzgesetz würde Konsequenzen für jene Bundesländer oder Ministerien vorsehen, die ihre Ziele nicht erreichen. Sie müssten sich dann stärker an den Zertifikatskäufen beteiligen. Es müsste aber auch andere Korrekturen geben. Wenn der Verkehrsbereich aus dem Ruder läuft, so wie es nach wie vor der Fall ist, dann müsste man diskutieren, wie man die Emissionen einfängt. Steigt die Verbindlichkeit, müsste man auch unpopuläre Maßnahmen wie Tempo 80 oder 100 umsetzen, um wieder auf Kurs zu kommen. Genau deshalb ist das Klimaschutzgesetz bei Teilen der Regierung so unbeliebt. Diese Verbindlichkeit wollen einige nicht. Also wird die Regierung ihre eigenen Klimaziele voraussichtlich verfehlen.

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Tempo 100 auf Autobahnen ist eine Möglichkeit, Emissionen im Verkehrssektor zu reduzieren.
Foto: Getty/ElcovaLana

STANDARD: Man hört, dass vor allem die ÖVP blockiert.

Steurer: Mit der ÖVP ist es grundsätzlich schwierig, ernsthaften Klimaschutz zu machen. Das hat auch mit der klimapolitischen Tradition der ÖVP zu tun, die seit jeher Freiwilligkeit betont, obwohl längst klar ist, dass es so nicht geht. Wie die vielen verfehlten Ziele seit den 1990er-Jahren zeigen, ist die Klimapolitik der ÖVP der Inbegriff von Scheinklimaschutz: Sie tut so, als ob sie das Problem ernst nimmt, verhindert aber vieles, was wirksam wäre, und kauft anstelle dessen lieber Emissionszertifikate im Ausland, hinter denen oft fadenscheinige Emissionsreduktionen stehen. Trotzdem ist die ÖVP natürlich kein geschlossener Block. Es gibt progressivere Kräfte und solche, die stark bremsen. Zu den Bremsern gehören – das ist auch kein Geheimnis – der mächtige Wirtschaftsbund bzw. die Wirtschaftskammer sowie sämtliche Bundesländer, Letztere besonders beim Ausbau der Windenergie. Da gibt es schon manchmal Spannungen innerhalb der ÖVP, wie beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz, dessen Beschluss kurzfristig verschoben wurde.

STANDARD: Dieses sieht unter anderem vor, dass die letzte Gasheizung erst 2040 verschwinden muss. Also in einem Jahr, in dem Österreich bereits klimaneutral sein will. Kommt der Austausch dann noch rechtzeitig?

Steuer: Wenn 2040 wirklich die letzte Gasheizung ausgetauscht wird, dann könnte man glauben, wir hätten eine Punktlandung gemacht. Aber das mit der Klimaneutralität ist ein bisschen schwieriger. Das IPCC geht davon aus, dass wir bei CO2, also bei fossilen Brennstoffen, Klimaneutralität viele Jahre vor dem eigentlichen Datum erreichen müssten. Zum Schluss kommen nämlich die richtig großen Brocken – die Landwirtschaft, die Industrie, wo Emissionen schwieriger vermeidbar sind. Im Grunde kommt der Gasheizungstausch bis 2040 also zu spät. Noch ärger ist allerdings, dass wir aktuell eine Gaskrise haben und nach wie vor Gasheizungen in Neubauten installiert werden. Das darf eigentlich nicht sein.

STANDARD: Welche anderen großen Vorhaben hängen in der Luft?

Steurer: Im Koalitionsabkommen steht, dass es einen neuen Finanzausgleich braucht, der Klimaschutz berücksichtigt. Idealerweise sollten, in Verbindung mit dem Klimaschutzgesetz, finanzielle Konsequenzen drohen, wenn ein Bundesland in bestimmten Bereichen Emissionen zu wenig reduziert. Ich habe von dem Vorhaben in den letzten zwei Jahren fast nichts mehr gehört, das scheint sich verlaufen zu haben. Wenn es gutgeht, kommt etwas zusammen mit dem Klimaschutzgesetz. Aber das bezweifle ich, weil das ist ein sehr dickes, wenn auch wichtiges Brett.

Windräder oder Szenen der Verwüstung – das ist laut Steurer die Wahl, die uns bleibt.
Foto: imago images/photothek

STANDARD: Kommen wir zum Erneuerbaren-Ausbau. Da war Österreich ja sehr früh sehr stark. Es scheint aber so, als habe das Land den Ausbau in den vergangenen Jahren verschlafen. Wo stockt es?

Steurer: Beim Erneuerbaren-Ausbau waren wir klimapolitisch nie stark. Die traditionell starke Wasserkraft hat mit Klimapolitik wenig zu tun, die wurde nämlich vor 1990, also vor dem Beginn der Klimapolitik, am stärksten ausgebaut. Da ging es um Energieversorgung im Inland. Seit es um Klimapolitik geht, haben wir wenig Erneuerbare zugebaut. Im internationalen Vergleich sind wir also auch da kein klimapolitischer Vorreiter. Jetzt kommt aber Dynamik ins Spiel. Wir haben derzeit einen gewaltigen Turbo am Markt: Die Preise für Erneuerbare sind sehr niedrig, die für fossilen Strom sehr hoch. Die Marktsignale stimmen also, ebenso die politischen Signale aus dem Bund, der deutlich höhere Förderungen für 2023 vorsieht. Jetzt liegt das Problem in den Bundesländern. Und zwar mehrfach.

STANDARD: Warum?

Steuer: Zum einen wird mit sehr bürokratischen Regelungen und fehlenden Widmungen für Photovoltaik und für Windkraft gebremst. Zum anderen können private Anlagenbetreiber, die teilweise vom Bund unterstützt werden, oft viel zu wenig Strom einspeisen. Es gibt unzählige Haushalte, die ein halbes Jahr und mehr auf einen Bescheid warten, laut dem sie von zehn oder 15 Kilowattstunden Spitzenleistung nur fünf einspeisen dürfen – mit der Begründung, das Netz verträgt nicht mehr. Das mag oft stimmen. Es ist aber zu bedenken, dass die Netzbetreiber einen Interessenkonflikt haben. Sie stehen meist in einem Naheverhältnis mit den Landesenergieversorgern, und die haben nicht immer Freude damit, wenn Haushalte ihren Strom selbst produzieren. Diesen Konflikt könnte man leicht auflösen, wenn eine unabhängige Stelle über den Netzzugang entscheiden würde.

STANDARD: Viele Menschen wollen außerdem keine Windräder und großen Photovoltaikanlagen in ihrer Nähe haben. Wie löst man diesen Konflikt?

Steurer: Die beste Lösung wäre, die Bevölkerung durch Bürgerbeteiligungsmodelle an den Gewinnen dieser Projekte teilhaben zu lassen. Wenn wirtschaftliches Interesse dazukommt, dann wird es für viele sicher interessanter. Eine andere Möglichkeit wäre, die Dringlichkeit der Stromwende zu vermitteln. Wir stehen tatsächlich vor der Wahl, entweder mit ein paar Windrädern zu leben oder in ein paar Jahrzehnten in eine verwüstete Landschaft zu schauen.

STANDARD: Die meisten Menschen sind laut Umfragen für mehr Klimaschutz zu haben. Verrennen sich Parteien nicht langfristig, wenn sie klimapolitisch blockieren?

Steurer: Bei manchen Fragen ist die Bevölkerung vermutlich tatsächlich weiter als zum Beispiel die ÖVP. Dann gibt es natürlich heikle Punkte, wo die ÖVP und andere Großparteien sehr genau drauf schauen, was populär ist und was Wählerstimmen kosten könnte. Das klassische Beispiel für so ein heikles Thema ist das Tempolimit. Es gibt Umfragen, die besagen, dass eine Mehrheit gegen Tempo 100 ist. Auf diese schauen die Parteien, weil sie wegen Klimaschutz keine Stimmen verlieren wollen. Das Problem dieser Umfragen ist natürlich, dass einfach gefragt wird: Sind sie für oder gegen Tempo 100? Ohne Alternative. Dabei müsste die Frage lauten: Sind Sie für Tempo 100 oder einen deutlich höheren CO2-Preis, der uns hilft, die Verkehrsemissionen bis 2030 zu halbieren? Darum geht es ja. Wenn man die Klimaziele ernst nimmt, dann ist Tempo 100 also nicht etwas, das man sich nach Gutdünken aussuchen oder eben bleiben lassen kann, sondern eine vergleichsweise attraktive Option von mehreren, um Emissionen zu senken. Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie unernst, ja geradezu lächerlich klimapolitische Diskussionen nach wie vor laufen, allerdings nicht nur bei uns. In Deutschland ist das ähnlich.

DER STANDARD

STANDARD: Es scheint, als wolle sich die Politik nicht mit den Autofahrenden anlegen. Welche anderen Schritte, die im Verkehr einfach umgesetzt werden können, gibt es?

Steurer: Studien zeigen eindeutig: Technik, also in dem Fall das Elektroauto, ist wichtig, löst das Problem aber allein nicht. Wir brauchen auch andere Hebel. Neben Tempolimits ist ein weiterer, den öffentlichen Verkehr attraktiver zu machen. Und der dritte Hebel wäre eben die Erhöhung des CO2-Preises. Im Moment ist das natürlich kein Thema, weil die Spritpreise nach wie vor hoch sind und der Weltmarkt 2022 sozusagen das Zigfache des geltenden CO2-Preises realisiert hat. Mit dem großen Fehler, dass das Geld in den Profit der Ölindustrie geht und nicht als Klimabonus den Steuerzahlern rückvergütet wird.

STANDARD: Sie haben sich kürzlich zusammen mit rund 40 anderen Personen aus der Wissenschaft hinter die Proteste der Letzten Generation gestellt. Was hat Sie dazu bewegt?

Steurer: Da kamen mehrere Dinge zusammen, und es war keine einfache Entscheidung. Zum einen hat sich die Klimakrise in den letzten Jahren deutlich verschärft, und die Klimapolitik konnte nicht Schritt halten. Wenn man da nicht radikaler darauf reagiert, hat man irgendetwas verschlafen. Die ganze Gesellschaft sollte sich ändern, nur die Wissenschaft geht weiter ihren Routinen nach? Das kann es angesichts des Notstands nicht sein. Zum anderen habe ich den politischen Diskurs beobachtet und gesehen, wie Aktivistinnen da draußen ihren Lebenslauf aufs Spiel setzen und für einen völlig legitimen Protest von vielen Seiten teils wüst beschimpft wurden, als Chaoten und Terroristen. Zumal die wahren Chaoten jene sind, die das Klimachaos der Zukunft zu verantworten haben, war das der Punkt, an dem ich dachte, man kann sie damit nicht alleinlassen. Wer, wenn nicht Wissenschafter:innen, die tagtäglich erzählen müssen, wie drastisch die Situation ist, soll ihnen Rückhalt geben? Dann kam noch etwas dazu. Ich war sehr überrascht, als ein Student von mir an der Aktion im Leopold-Museum beteiligt war – vielleicht bewegt von dem, was ich in einer Vorlesung zur Klimakrise erzählt habe. Das hat etwas mit mir gemacht. Man könnte also sagen: Zunächst habe möglicherweise ich ihn radikalisiert. Dann hat er mich ohne Absicht aus der Komfortzone geholt. Dafür bin ich ihm rückblickend dankbar. (Alicia Prager, Philip Pramer, 10.2.2023)