Ein Schweinchen blickt aus dem Fenster auf ein paar Tauben. Die Vögel gurren hektisch nickend auf der Kärntner Straße vor sich hin. Das kleine Schwein ist aus Porzellan gefertigt und steht in der Auslage von J. & L. Lobmeyr. Die Scheiben werden von einem prächtigen gründerzeitlichen Portal eingerahmt. Eingezwickt liegt das dreigeschoßige Geschäft zwischen einem Showroom für ultramoderne Audi-Boliden, einem Kosmetikgeschäft und einer H&M-Filiale. Das Portal der Hausnummer 26 ist weit und breit einzigartig. Das Dahinter ebenso. Das Schweinchen gesellt sich zu Bechern, Sektkübeln, Kerzenständern, Spiegeln und Gläsern aus allen möglichen Epochen. Auf dem Glas Buntrokoko von 1873 lässt sich ein biedermeierlich anmutendes Pärchen auf einer Wiese blicken. Der Jüngling scheint der liegenden Dame Avancen zu machen.

Das beeindruckende Firmen-Portal in der Wiener Kärntner Straße.
Foto: Lobmeyr / Klaus Fritsch

Betritt man das Geschäft, überkommt einen eine Art andächtige Scheu. Die Zeitreise startet stante pede und führt vom Gründungsjahr der Firma 1823 bis ins Heute. Atmosphärisch wie stilistisch. Hier drinnen ist Schluss mit Taubengegurre und Touristenhorden, mit H&M und Apple Store, an dessen Location in der Kärntner Straße Lobmeyr vor 1895 untergebracht war.

Kathedrale des Glases

Es herrscht erstaunliche Stille, lediglich das Geknarze des alten Parkettbodens lässt sich hören. Ein Geräusch der Zeitlosigkeit. Sehr analog. Die Frage, ob man sich umschauen dürfe, wird freundlich bejaht. Das Geschäft kommt einer Art Kathedrale des Glases gleich, ferner handelt Lobmeyr auch mit edler Ware anderer traditioneller Unternehmen wie Meissen oder Augarten Porzellan. Auf die Frage, wie viele eigene Gläser man auf der Preisliste hat, lautet die Antwort "877". Die Zahl der Entwürfe von Gläsern im Archiv werden auf 10.000 geschätzt, die der Luster auf 5000, Pi mal Daumen. In 200 Jahren kommt halt was zusammen. Inzwischen wird das Unternehmen in sechster Generation von den Urururenkeln des Firmengründers geführt, namentlich von Andreas, Leonid und Johannes Rath. Ob es manchmal Wickel gibt, wenn drei Cousins ein solches Geschäft leiten? "Formulieren wir es folgendermaßen. Es kommt immer wieder zu reinigenden Gewittern", meint Johannes Rath. Cousin Leonid nickt zustimmend.

Die Hausherren bei Lobmeyr, die Cousins und Urururenkel des Firmengründers Josef Lobmeyr, Johannes Rath, Leonid Rath und Andreas Rath (v. li.).
Foto: Lobmeyr / Katharina Gossow

Edison und der Kaiser

Ein Haus wie Lobmeyr erzählt viele Geschichten, Geschichten von Menschen und Orten, die zusammengefügt einen unterhaltsamen Roman über eine spannende Dynastie ergäben. Vielleicht eine Art wienerisches Buddenbrooks, mit dem Unterschied, dass ein Niedergang der Lobmeyr’schen Welt wohl nicht in Sicht ist. Zu schöpfen wäre in diesem Buch aus dem Vollen. Die ersten Seiten stünden dem Firmengründer Josef Lobmeyr zu, der bald schon k. u. k. Hoflieferant wird. Ihm folgen die Söhne Josef und Ludwig Lobmeyr. Ludwig wird zum Protagonisten der österreichisch-böhmischen Glasherstellung und präsentiert das Haus auf den ersten Weltausstellungen. Außerdem ist er Mitbegründer des heutigen Museums für angewandte Kunst. Sein Neffe Stefan Rath sen. führt Lobmeyr in die Moderne und mischt bei der Entstehung des österreichischen Werkbundes mit. Ein Kapitel gehörte in jedem Fall dem Jahr 1883. In diesem entwickelt das Unternehmen mit Thomas Edison die ersten elektrischen Kristallluster für die Wiener Hofburg. Angeblich fürchtete sich Kaiser Franz Joseph zunehmend vor dem Ausbruch eines Feuers. Wie der Kaiser wohl dreinschaute, als er zum ersten Mal das Licht anknipste?

Ein Luster aus der "Met-Kollektion", und zwar das Modell "Metropolitan-Foyer".
Foto: Lobmeyr / Fischka

Und sonst so? Lobmeyr stattet zahlreiche andere Herrscherhäuser aus, unter anderem jenes von Siam, den Kreml ebenso, und 1966 hängen Handwerker den Luster Starburst in das Foyer der Metropolitan Opera in New York. Das legendäre Ding misst sechs Meter im Durchmesser und leuchtet in kleineren Ausführungen unter anderem bei Tiffany oder Chanel. Vor nicht allzu langer Zeit reiste Johannes Rath mit einer leicht geschrumpften Version des Met-Leuchters nach Toronto, um ihn mit seinen 20.000 Kristallen in der Stube, genauer gesagt im "Grand Room" des Rappers Drake zu installieren. Der Luster soll einem Sternenhimmel nach dem Urknall gleichen. Sein Entwerfer Hans Harald Rath, der Großvater der amtierenden Cousins hat angeblich vor der Hängung in einem New Yorker Hotel ein Modell des Leuchters aus Kartoffeln, Zahnstochern und Streichhölzern gefertigt. Johannes Rath, der jüngste der Chefs, erzählt gern solche Geschichten, auch jene von einem falschen indischen Großfürsten, der 50 Luster für eine Hochzeit bestellen wollte, sich bei einem Treffen in London allerdings trotz Entourage und Turban als Fake-Maharadscha entpuppte.

In den 1970er-Jahren bestückt man die großen Moscheen in Mekka und Medina, viel früher Schlösser wie das des schrägen Bayernkönigs Ludwig II. Legendäre Hotels auf der ganzen Welt oder das Privattheater eines kolumbianischen Stahlbarons funkeln ebenso made by Lobmeyr wie so manche Tischware in den Restaurants von Alain Ducasse oder Ferran Adrià. Apropos: Bei Staatsbanketten kommt bis heute das Hofburgservice von Lobmeyr auf die Tafeln der Hofburg. Die Liste der Staatsoberhäupter, die daraus ihre Suppe löffelten – eine lange.

Das Trinkservice No. 4 von Ludwig Lobmeyr (1856).
Foto: Lobmeyr / Michael Rathmayer

Die Augen des Besuchers im sogenannten Stammhaus in der Wiener City springen von einem Entwurf zum anderen, von einer Epoche zur nächsten. Vom klassischen Zylinderbecher von Adolf Loos über Champagner- und Martinigläser von Oswald Haerdtl aus den 1920ern bis hin zu anderen mundgeblasenen, handgeschliffenen Stücken von Ludwig Lobmeyr aus den 1850er-Jahren und allerlei modernen Entwürfen ist alles vertreten. Allen gemein ist die Eigenschaft des geformten Durchblicks, eine Faszination, für die der Werkstoff Glas seit jeher steht. Die stilistischen Hauptpfeiler liegen im Historismus, in Entwürfen der Wiener Werkstätte, aber auch, und das macht die Angelegenheit besonders spannend, im zeitgenössischen Design.

Familie an der Wand

Über all dem Feilgebotenen hängt gleich einem Firmament eine Reihe von Lustern. Seine Sternenkonstellationen bilden glitzernde Glaskristalle. Wie wäre es mit dem Luster 6693-9 – Louis XVI? Das 30 Kilo schwere, weitverzweigte Kristallgehänge gibt’s um wohlfeile 46.811 Euro. Es hängt im dritten Stockwerk des Geschäftes, das auch als Museum dient. Der Besucher selbst wird übrigens ebenfalls beäugt, und zwar von zahlreichen Mitgliedern der Lobmeyr-Dynastie, die sich in Form von Porträts an den Wänden zeigen.

Das Dekor für das Glas aus der Kollektion "Crack" von Lobmeyr hat Murray Moss im Jahre 2017 entworfen.
Foto: Lobmeyr / Klaus Fritsch

Doch zurück in die Gegenwart. Kaum ein anderes österreichisches Traditionshaus arbeitet derart konsequent mit zeitgenössischen Kreativen, von Matteo Thun über Helmut Lang bis hin zum Duo Formafantasma oder Stefan Sagmeister, zusammen.

Spielerisch ging es 2008 der tschechische Designer Maxim Velčovský an. Er schuf ihm Rahmen des Designfestivals Vienna Design Week mit seinen City Shades eine Installation aus mehreren Aluquadern, die in Bauklotzlässigkeit aufeinandergetürmt werden. Vier Meter hoch. Im Inneren der Quader stehen Fundstücke aus den Tiefen des Kellers der Glasmanufaktur Lobmeyr. Von einer Lichtquelle angestrahlt, wirft die Glasware ihre Schatten auf die Vorderseite aus Plexiglas. Dort werden sie zu Silhouetten einer Stadt: Wien, Moskau und New York gehört jeweils einer dieser Quader, und es scheint verblüffend, was Velcovský mit dieser optischen Spielerei, einer Art Mix aus Laterna magica und Schattentheater, aufführt. Deutlich sind zu erkennen: der Stephansdom, der Millennium Tower und ganz links die Türme der Karlskirche, deren leuchtende Spitzen aus zwei angestrahlten Schnapsgläsern zu bestehen scheinen. Die renommierte Design-Kritikerin Alice Rawsthorn sagt über Lobmeyr: "Faszinierend, wie das Können, das Wissen und die Leidenschaft der Werkstätten auf die Werke ganz unterschiedlicher moderner Designer übertragen werden."

Das bei der Vienna Design Week gezeigte Projekt "City Shades" von Maxim Velčovský.
Foto: Vienna Design Week / Kollektiv Fischka

Andere zeitgenössische Designerinnen und Designer, die in den Kosmos von Lobmeyr eintauchten und diesen erweiterten, heißen Sebastian Menschhorn, Polka Design, Marco Dessi oder Max Lamb. Schnell wird klar, dass man sich bei Lobmeyr nicht davor scheut, Extreme in Sachen Design auszuloten. Johannes und Leonid Rath sprechen im Zusammenhang mit Design von einem Marketingtool. "Die Auseinandersetzung mit Designstudios bringt externe Sichtweisen ins Haus. Die Designerinnen und Designer fungieren im weitesten Sinn wie eine Art Unternehmensberater, ihre Ansichten sind wie eine andere, aber sehr relevante Sprache." Apropos Marketing: Der Umsatz betrug im vergangenen Jahr 6,3 Millionen Euro bei einem Exportanteil von 62 Prozent. Die drei wichtigsten Auslandsmärkte finden sich in der EU, in den USA und Japan.

Aladin in Erdberg

Nicht allzu weit vom Stammhaus entfernt, nämlich in der Salesianergasse Nr. 9 im dritten Bezirk, findet man einen Lobmeyr-Satelliten, an dem die analoge Welt noch intakter und ungestörter scheint. An diesem Ort sind die Lustermanufaktur, ein Showroom, die Gürtlerei, die Eisenwerkstätte, die Kettlerei, die Gravurwerkstätte, das Archiv und die Glasschleiferei untergebracht. Alles zusammen entpuppt sich als Labyrinth, das in handwerkliche Wunderkammern führt, in denen es sich staunen lässt. 30 Menschen sind hier beschäftigt. Zwei Katzen gibt’s auch, Nikita und Titus. Das Glas, das hier weiterverarbeitet wird, stammt aus Ungarn und Tschechien, die Kristalle für die Luster aus dem oberösterreichischen Kremsmünster.

Allein olfaktorisch bilden die alten verwinkelten Räumlichkeiten einen besonderen Kosmos. Die Gerüche reichen von Schmieröl über Glasstaub bis hin zu poliertem Messing. Letzterer steigt einem in der Gürtlerei in die Nase, wo ein Mitarbeiter, Herr Lischka, gerade ein Rokoko-Messingteil ziseliert, das in einem Schraubstock klemmt. Ziselieren bedeutet, er arbeitet mithilfe von Punzen, Sticheln oder Feilen Muster in Metalloberflächen ein. Lischka arbeitet seit 31 Jahren für das Unternehmen, ist eine Art Aladin des Hauses, denn auch dessen Lampe war angeblich aus Messing. Lischkas Smartphone scheint die einzige Verbindung zur digitalen Welt draußen zu sein. Einen Stock höher, mit Blick auf einen weitläufigen Innenhof, werden in der Kettlerei die Luster "angekleidet". So wird der Arbeitsschritt genannt, bei dem ein Luster mit Kristallen bestückt wird. Die fertigen Produkte hängen von der Decke, die Kristallsteine sind in dünnes weißes Papier verpackt. Als Ganzes wirken die Dinger wie kleine Skulpturen von Christo und Jeanne-Claude.

In der Eisenwerkstätte

In der Eisenwerkstätte hängt eine Rapid-Fahne, es zeigen sich mächtige Bohrmaschinen, Werkzeuge und Metallteile sonder Zahl sowie Luster und Laternen, die von der Decke baumeln. Zwei davon erinnern an altdeutsche Stammtischleuchten und wurden aus der Heurigenstube der abgebrannten Sophiensäle gerettet. Hier, in dieser Welt von Lobmeyr, Inventur machen zu müssen würde wohl sogar einen Sisyphos Reißaus nehmen lassen.

In der Gravurwerkstätte, der letzten Station des Besuches, erklärt Leonid Rath, wie sehr der Firma die Sehnsüchte nach Authentischem, nach Handwirklichem und nach Qualitätsware in die Hände gespielt hätten. Aus der Sicht der 1980er-Jahre, als Massenware so ziemlich jedes Segment überschwemmte, schien dies eine kaum zu erwartende Entwicklung zu sein. Rath hält vor der Sandstrahlmaschine ein Glas ins fahle Licht. In seine Oberfläche wurden in fisseliger Feinstarbeit Vögelchen, kleine Zweige und Blümchen eingraviert. "Wir möchten, dass man sich im Laufe der Zeit mehr in die Details unserer Produkte verliebt. Ein Objekt soll im Laufe des Zusammenlebens mit selbigem immer spannender werden." Auf die Frage, ob Scherben Glück bringen, meint Johannes Rath: "Kommt darauf an, wer was zusammenhaut." Ob es Lobmeyr auch in 200 Jahren noch geben wird? "Wir denken schon. Getrunken werden muss auch dann noch, oder?" Beim Abschied im Innenhof erfährt der Besucher, dass Teile der Werkstätten schon bald in nigelnagelneue, modernere Bereiche, allerdings im selben Komplex, übersiedeln werden. Irgendwie schade. (Michael Hausenblas, RONDO, 11.2.2023)