Erzählerisches Können und viel Fantasie: Ottessa Moshfegh (41) wird vom Publikum geliebt und von der Kritik gelobt.

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Von der eigenen Alkoholsucht im autobiografischen Roman Eileen (2015) und der Geschichte einer jungen Frau, die sich in Mein Jahr der Ruhe und Entspannung (2018) gegen die Zermürbungen der New Yorker Kunstszene keine andere Notwehr weiß, als sie mittels Medikamenten zu verschlafen, zu einem mittelalterlichen Dorf ist es ein weiter Weg. Die Autorin Ottessa Moshfegh ist ihn für ihr neues Buch Lapvona gegangen.

Weit ist er auch, weil Lapvona ein märchenhafter Ort ist, irgendwo zwischen Bergen und Meer, südlich, fruchtbar. Verwaltet wird der Landstrich von Fürst Villiam. Am Fuß des Hügels, auf dem sein Schloss steht, leben der zu allen außer seinen Tieren grobe Lammhirte Jude und sein – nach einem Abtreibungsversuch – "missgebildeter" Sohn Marek sowie im Dorf mit gottesfürchtigen, armen Einwohnern eine alte, blinde Amme mit magischen Kräften. Sie stellen den harten Kern des Figurenpersonals dar, das Moshfegh von einem Frühling bis zum nächsten begleitet.

Der Plot verläuft auf gut 300 Seiten recht geradlinig. Tritt eine Figur zum ersten Mal auf, liefert Moshfegh ihre Vorgeschichte mit. Intrigen werden gleich in die Tat umgesetzt, Fehler gestanden, was Längen vorbeugt. Erzähltechnisch wirkt Lapvona angesichts seiner klaren Strukturen erstaunlich konventionell, immerhin handelt es sich bei Moshfegh um eine der meistgehypten US-Autorinnen.

Außenseiter und Rätsel

Das liegt daran, dass die 41-Jährige großartig darin ist, groteske Figuren in absurde Szenen zu setzen. Zuletzt war es in Der Tod in ihren Händen (2020) eine ältere Dame, die auf eigene Faust in einem mysteriösen Mord ermittelt. Außenseiter haben es ihr angetan, das Rätselhafte, Unappetitliche, auch Schmuddelige. Das ist selten, das mag die Kritik an ihr. Außerdem die Beschreibung von Körperlichkeit fernab von clean und schön. Dazu gehört diesmal die bis zur Selbstgeißelung reichende Lust am Schmerz bei Jude und Marek, die ihnen Gottes Gnade sichern soll. Oder dass die Amme den 13-jährigen Marek nicht nur noch stillt, sondern er ihre Brustwarzen mit sexueller Gewissenhaftigkeit saugt. Vor allem im Gedächtnis bleibt der moralisch derangierte, verfressene Villiam – selbst sein bester Hofnarr.

Die als Tochter eines Iraners und einer Kroatin an der Ostküste geborene und in Los Angeles lebende Moshfegh hat Lapvona unter dem Eindruck der Präsidentschaft von Donald Trump geschrieben. Es finden sich darin zudem sehr zeitgemäße Referenzen von Fake News bis zu Dürresommern. Doch hat man, indem Moshfegh maßlos überzeichnet, nie das Gefühl, sie wolle mahnend und raunend ein Zerrbild der Gegenwart entwerfen. So etwas liegt ihr einfach nicht. Während Villiam das Schmelzwasser aus den Bergen in einen privaten Badesee hinterm Schloss umleitet, beißen also die darbenden Dorfbewohner in Kuhmist und mampfen sogar Mitmenschen.

Jude und Villiam haben zwar denselben Urgroßvater. Sie begegnen einander aber erstmals, als Marek den Sohn des Fürsten tötet. Ärger? Iwo. Der schlägt in seiner Unterhaltungssucht ohne Klage einen Tausch vor: Marek soll sein Erbe werden. "Das verkrüppelte Ding bewegte Villiam; er fand besonderes Gefallen an den Launen der Natur." Am Schloss muss Marek sich Trauben in den Po stecken und sie zwecks Demütigung Dienern füttern.

Ein Mittelalter-"South Park"

Der Wahnsinn schaukelt sich auf. Zielstrebige Sätze und starke Bilder reichen einander die Hände. Mareks vor Jude und dessen sexueller Gewalt einst geflüchtete Mutter taucht auf, wird von Villiam als neue Muttergottes erkannt, zwecks touristischer Nutzung platonisch geehelicht. Der Priester des Dorfes kann weder Latein noch die Bibel wiedergeben und vertieft sich, um der Blamage zu entgehen, in seinen Suppenteller. Sehr gut kann man sich eine Serienverfilmung davon wie Matt Groenings Satire Disenchantment vorstellen. Lapvona ist ein Mittelalter-South Park.

In Interviews erklärt Moshfegh, sie habe wie Marek eine verkrümmte Wirbelsäule. Für einen empathischen Roman ist in Lapvona aber zu viel los. In der von Moshfegh angesteuerten Übertreibungslogik dürfen sich die Ereignisse zwar überschlagen. Sie legt ihr erzählerisches Können und ihre Originalität damit diesmal aber in ein Thema, das ihr Publikum schlechter bedienen dürfte als frühere, besonders für urbane Millennials anschlussfähige Bücher. Doch dass sie sich nicht einfügen will, macht ihren Erfolg gerade aus. (Michael Wurmitzer, 8.2.2023)