Ein Mann schwingt auf einer Demonstration in der Hauptstadt Addis Abeba die äthiopische Flagge.

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Zwei Jahre lang befand sich Äthiopien im Krieg – zwei Jahre, in denen die äthiopische Regierung und die Rebellen in der Tigray-Region im Norden des Landes sich aufs brutalste bekämpften. Tausende Menschen starben, unzählige wurden gefoltert und vergewaltigt. Entsprechend tief sitzen das Trauma sowie das gegenseitige Misstrauen, das der Krieg hinterlässt. Daran ändert auch der Friedensvertrag wenig, den die Kriegsparteien im vergangenen November unterzeichneten.

Der eigentliche Friedensprozess stehe noch ganz am Anfang, erklärt der äthiopisch-österreichische Politologe Belachew Gebrewold. Er ist Professor für internationale Politik am Management-Center Innsbruck (MCI) und forscht zu der Frage, wie nach Kriegen wieder Frieden hergestellt werden kann. "Krieg beginnen ist einfach, Krieg beenden viel schwieriger", sagt er.

Der Friedensvertrag brachte vor allem die Zusage der Tigray, die Waffen wegzulegen und die föderale Armee Äthiopiens anzuerkennen. Im Gegenzug verspricht die Regierung, den Zugang für humanitäre Hilfe zu sichern und die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. Viele Detailfragen lässt der Vertrag jedoch offen. Eine davon: Wie die Zukunft der 250.000 Kämpfer in Tigray aussehen soll. "Wo werden sie Jobs finden? Welche Rolle werden sie in der Gesellschaft haben?", fasst Gebrewold zusammen. In den kommenden Monaten sollen Antworten ausverhandelt werden.

Belachew Gebrewold ist Professor für internationale Politik am Management-Center Innsbruck (MCI).
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Ethnischer Föderalismus in der Verfassung

Um künftige Kriege im Land zu verhindern, müssen außerdem dringend die Ursachen aufgearbeitet werden, sagt Gebrewold über seine Forschung. Das sei in vielen Kriegen gar nicht so einfach, so auch im Fall Äthiopiens. Zur Erinnerung: 2021 wurden Lager der äthiopischen Armee in Tigray von der ehemaligen Regierungspartei Tigray People's Liberation Front, kurz TPFL, angegriffen – für Premierminister Abiy Ahmed ein Grund, Truppen in den Norden zu schicken. Die Kämpfer der TPFL schlugen zurück, Ende 2021 standen sie kurz vor Addis Abeba. Doch die Armee der Regierung drängte sie in die Region im Norden zurück, dort isolierte sie die Menschen so weit, dass viele Monate nicht einmal Hilfskonvoys durchgelassen wurden. Eine der schlimmsten humanitären Katastrophen weltweit, warnte die Weltgesundheitsorganisation damals.

Was war dem grausamen Krieg vorausgegangen? Eine Antwort findet Gebrewold in der Verfassung des Landes. Dort ist seit 1995 das System des ethnischen Föderalismus verankert. Diese verspricht allen ethnischen Gruppen "ein uneingeschränktes Recht auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf Unabhängigkeit". Damals war die TPLF noch Teil der Koalition.

"Mit diesem Artikel hat die ehemalige Koalition die Unterscheidung ethnischer Identitäten in die Verfassung geschrieben. Das war gefährlich. Identitäten können von Eliten leicht instrumentalisiert werden", sagt Gebrewold. Eine Gruppe könne damit relativ einfach gegen eine andere ausgespielt werden.

"Es wird versucht, eine Gruppe so zu brandmarken, dass sie entmenschlicht wird. So werden viele Kriege legitimiert", so der Politologe weiter. Sämtliche Gemeinsamkeiten zwischen einer Gruppe und einer anderen würden eingerissen. Diese Dynamik steht auch im Fokus eines neuen Buchprojekts, an dem Gebrewold aktuell arbeitet.

Streit um politischen Einfluss

Dieses System habe der Tigray-Elite zwischen 1991 und 2018 zu einer sehr einflussreichen Stellung im Staat verholfen, meint Gebrewold.

Als Abiy dann 2018 einen Friedensvertrag mit Eritrea unterzeichnete – die TPLF war mit Eritrea besonders befeindet und lehnte den Friedensvertrag ab – wurde klar, wie sehr der Einfluss der TPLF geschwunden war. Diese kritisierte eine mangelhafte Legitimierung der Entscheidungsfindung innerhalb der Koalition, an der die TPLF zu diesem Zeitpunkt noch beteiligt war.

Die nächste Entscheidung, die zur weiteren Isolation der Tigray führte, traf Abiy 2019: Er löste die alte Koalition auf, um, wie er begründete, die äthiopische Politik vom ethnischen Föderalismus im Land zu distanzieren und einen Neustart zu versuchen. Abiy gründete die Prosperity Party, an der sich alle vorherigen Koalitionspartner beteiligten – außer die TPLF. Nachdem die landesweiten Wahlen dann aufgrund der Corona-Pandemie aufgeschoben wurden, hielt die TPLF 2020 eine eigene Regionalwahl ab. Abiy nannte diese illegal. Von hier an eskalierte die Situation.

Der Sicherheitsberater des äthiopischen Regierungschefs, Redwan Hussein, und TPLF-Sprecher Getachew Reda unterzeichnen den Friedensvertrag im November 2022 in Pretoria, Südafrika.
Foto: AFP / Phill Magakoe

Staudammprojekt mit Folgen

Heute gibt es wieder direkte Flüge zwischen Adis Abeba und Mekelle, die Telefon- und Internetverbindung wird wieder aufgebaut, ebenso die Stromversorgung. Allerdings geht all das nur langsam voran, nach wie vor gelangen Hilfskonvoys nicht in alle Gebiete Tigrays, wie die UN Anfang Februar bekannt gab.

"Der Krieg hat nicht nur die Infrastruktur, sondern auch das Vertrauen zerstört. Es wird nicht von heute auf morgen alles anders", sagt Gebrewold. Neben dem Prozess im Inneren des Landes sei auch die Beziehung mit den Nachbarstaaten entscheidend, ergänzt er. Dabei sei vielversprechend, dass Kenias Präsident William Ruto als Vermittler auftrete zwischen Äthiopien, Eritrea und dem Sudan, meint Gebrewold. Die Beziehung Äthiopiens mit Eritrea als auch mit dem Sudan ist aufgrund des ungeklärten Verlaufs der Staatsgrenzen in zwei Gebieten angespannt.

Mit dem Sudan und Ägypten hat Äthiopien wiederum aufgrund eines Mega-Staudamms am Nil Streit – in Äthiopien soll er Strom für die wachsende Bevölkerung produzieren, der Sudan und Ägypten befürchten, der Damm könnte zu einer Wasserknappheit führen.

"Sowohl Ägypten als auch der Sudan unterstützten aus Äthiopiens Sicht die Tigray", meint Gebrewold. "Auch zwischen diesen Staaten müssen sich die Beziehungen wieder verbessern, damit der Frieden stabil bleibt." (Alicia Prager, 5.3.2023)