In Antakya, der vielleicht am schlimmsten betroffenen Stadt, sind den Überlebenden teils nur Trümmer geblieben.

Foto: EPA / Erdem Sahin

Eine Gruppe Männer steht vor den Trümmern eines ehemals zehnstöckigen Hauses. Mehrere liegen auf dem Bauch und horchen auf die Rufe aus dem Inneren des Trümmerberges, versuchen, irgendwie Kontakt aufzunehmen. "Wir hören die Schreie, aber wir können nichts machen", ruft einer. Ein anderer sagt: "Es gibt keine Rettungskräfte, keine Hilfskräfte, keine Soldaten. Niemanden. Dieser Ort ist von aller Hilfe verlassen."

Diese Szenen wurden Dienstagfrüh über die sozialen Netzwerke in der Türkei gepostet. Der Ort, wo die Männer sich befinden, ist Antakya in der Provinz Hatay, eine Stadt in einem relativ schmalen Streifen zwischen der syrischen Grenze und dem Mittelmeer. In der Provinz Hatay ist der Flughafen zerstört, viele Straßen sind nicht mehr befahrbar. Die Stadt mit rund 200.000 Einwohnern ist die wohl am härtesten vom Erdbeben getroffene in der Türkei. Aber auch viele syrische Flüchtlinge sind hier gestorben, 100.000 von ihnen leben dort und in der Umgebung.

DER STANDARD

Warum, fragten am Montagabend verzweifelte Angehörige, schickt der Staat nicht wenigstens die Marine, um so Hilfsgüter und Suchmannschaften nach Antakya zu bringen? Am Dienstag sind dann die ersten Helfer eingetroffen. Präsident Tayyip Erdoğan erklärte den Ausnahmezustand für die zehn vom Erdbeben betroffenen Provinzen. Damit ist jetzt die Grundlage dafür geschaffen, dass das Militär in großer Zahl anrücken kann. Enden soll er rund einen Monat vor der Präsidentenwahl, im Mai.

Tausende Tote

Die Nacht von Montag auf Dienstag war die kälteste in diesem Winter im Südosten der Türkei. Die Temperaturen fielen bis auf minus fünf Grad. Viele Menschen, die seit Beginn der Katastrophe unter den Trümmern ihrer Häuser verletzt begraben liegen, dürften diese zweite Nacht in der Kälte kaum überlebt haben. Allein in Antakya hat man bis Dienstagnachmittag bereits 890 Tote gezählt. Insgesamt gibt es nach offiziellen Angaben in der Türkei und Syrien mehr als 8.700 Menschen, die tot geborgen wurden. Befürchtet wird, dass diese Zahlen noch deutlich steigen könnten.

Zwei der Toten kommen aus Österreich. Wie das Außenministerium mitteilte, wurden sie in der Provinz Kahramanmaraş tot geborgen. Hinweise auf weitere vermisste Österreicher gebe es derzeit nicht. Zugleich brachen am Dienstag 82 Soldatinnen und Soldaten der Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) in das Katastrophengebiet auf. Deren Chef, Major Bernhard Lindenberg, sah kurz vor dem Aufbruch "in den kommenden Tagen keinerlei Entspannungsphase", wie er im Podcast des STANDARD "Thema des Tages" sagte. Das schnelle Einschreiten sei zentral, beim Retten Verschütteter zähle jede Minute.

ORF

Oberstleutnant Pierre Kugelweis meldete sich in der "ZiB 2" am Dienstagabend aus Hatay. Die dortige Infrastruktur ist stark beschädigt. "Hier funktioniert nichts", sagte er. "Wir sind kilometerlang durch Dunkelheit gefahren." Die Herausforderung sei nun, "Plätze zu finden, wo die Rettungswahrscheinlichkeit am höchsten ist".

Insgesamt ist für das Land über alle Partei- und internationalen Grenzen hinweg eine große Solidaritätswelle angerollt. In den Großstädten sind von privaten Initiatoren und Stadtverwaltungen Sammelstellen eingerichtet worden, wo man Spenden vorbeibringen kann. In Scharen liefern hier ganze Nachbarschaften warme Kleidung, aber auch Öfen, Decken und Verbandszeug ab.

Zugleich haben der Türkei mehr als 70 Staaten Hilfe angeboten – darunter viele, denen aktuell besonders am guten diplomatischen Verhältnis mit Ankara gelegen ist. So kündigten sowohl die USA als auch Russland und Israel die Entsendung von Spezialistinnen und Spezialisten an. Ebenso stellte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj "große Rettungstrupps" sowohl für die Türkei als auch für Syrien in Aussicht. Der Nato-Staat Türkei unterhält im Ukraine-Krieg mit beiden Seiten gute Beziehungen, liefert aber der Ukraine Waffen. Laut dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sind bereits Retter aus 36 Ländern im Einsatz.

Eine Katastrophe im Schatten

Noch schwerer abzuschätzen bleibt das Ausmaß der Katastrophe in Syrien. Mehrere Hundert Tote vermeldete das Regime bis Dienstagnachmittag, weitere Hunderte die Organisation der Weißhelme, die sich seit Beginn des Bürgerkriegs beim Ausgraben von Verschütteten im Rebellengebiet einen Namen gemacht hat. Laut Unicef-Sprecher James Elder sind von den Zerstörungen auch viele Schulen betroffen – und auch Spitäler, was nun die Rettungsarbeiten erschwere. Er fürchte, dass durch das Beben und die Folgen tausende Kinder sterben könnten.

Dabei hatte das Land schon zuvor neben dem Krieg mehrere Folgekatastrophen zu bewältigen, die die Hilfsinfrastruktur belasteten. Seit Wochen herrscht Frost, Schneestürme behinderten auch die Rettungsarbeiten am Dienstag. Zudem hatte sich schon zuvor auf dem Gebiet die Cholera ausgebreitet.

Immerhin waren viele der Hilfsrouten – dort, wo die Straßen nicht selbst vom Beben unpassierbar gemacht wurden – vorerst für Lieferungen zwischen den Regierungs- und den Rebellengebieten durchlässig. Das bestätigten am Dienstag mehrere Hilfsorganisationen.

Dass die Konzentration den Erdbebenschäden gilt, hat aber auch eine Kehrseite: In der Stadt Rajo flohen nach einer Revolte am Dienstag mindestens 20 bis dahin inhaftierte Mitglieder der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) aus einer Haftanstalt. Insgesamt befinden sich in dem betroffenen Gebiet tausende Anhängerinnen und Anhänger der Gruppe in Haft – sie freizubekommen war schon in den letzten Monaten ein Fokus des IS. (Jürgen Gottschlich, Manuel Escher, 7.2.2023)

Dieser Artikel wurde am 7.2.2023 um 23:07 Uhr mit einem "ZiB 2"-Beitrag aktualisiert.