Der Thwaites-Gletscher in der Westantarktis trägt auch den inoffiziellen Namen "Doomsday Glacier". Sein Abschmelzen dürfte den gesamten Westantarktischen Eisschild destabilisieren. Ähnliches könnte sich schon in der Eem-Warmzeit vor rund 125.000 Jahren abgespielt haben.

Foto: AP/Robert Larter/British Antarctic Survey

Fachleute machen sich schon länger Sorgen um den Westantarktischen Eisschild. Eine Studie vom September des Vorjahres lässt befürchten, dass schon innerhalb des kommenden Jahrzehnts ein entscheidender Klimakipppunkt erreicht werden könnte, der die Stabilität dieser Eismassen nachhaltig beeinträchtigt. Jenseits davon würde die in Gang gesetzte Dynamik dazu führen, dass der Eisschild selbst dann weiter abschmilzt, wenn sich die Durchschnittstemperatur auf der Erde nicht weiter erhöht – so zumindest das Ergebnis im Fachjournal "Science".

Sollte sich der Westantarktische Eisschild vollständig in flüssiges Wasser verwandeln, würde der weltweite Meeresspiegel zumindest theoretisch um bis zu vier Meter ansteigen. Bis es so weit ist, dürften jedoch auch bei extremen Klimaentwicklungen mindestens zwei Jahrtausende vergehen.

Verhältnisse wie heute

Dass es aber durchaus so weit kommen könnte, das verrät der Wissenschaft ein vergleichsweise unscheinbares Lebewesen. Denn stimmt es, was Forschende aus den Genen des Turquet-Kraken herauslesen, der im Südpolarmeer lebt, dann ging der Westantarktische Eisschild in nicht allzu ferner Vergangenheit schon einmal praktisch vollständig verloren – und damals herrschten ähnliche Temperaturverhältnisse, wie sie auch für die kommenden Jahrzehnte prognostiziert werden.

Lange Zeit war unklar, ob der Eisschild während der letzten zwischeneiszeitlichen Warmphase, der sogenannten Eem-Warmzeit, vor rund 125.000 Jahren den damaligen Klimaverhältnissen standhalten konnte oder vollständig zusammengebrochen ist. Wie ein internationales Team aus Biologen, Genetikern, Glaziologen und Klimaforschenden nun der Genetik des Turquet-Kraken (Pareledone turqueti) entnehmen konnten, war wohl Letzteres der Fall.

Die Spezies ist seit etwa vier Millionen Jahren rund um den antarktischen Kontinent verbreitet. Wie sich die einzelnen Populationen in dieser Weltregion verteilen, wie und wann sie sich vermischt und wieder getrennt haben, schlossen die Forschenden aus genetischen Proben von 96 Oktopussen, die über drei Jahrzehnte hinweg gesammelt wurden.

Seeweg ohne Eisschild

Dabei entdeckte das Team um Sally Lau, Genetikerin an der James Cook University (Australien), nach eigenen Angaben klare Anzeichen dafür, dass vor etwa 125.000 Jahren einige Oktopuspopulationen von einander gegenüberliegenden Seiten des Westantarktischen Eisschildes miteinander Kontakt hatten. Die einzige wahrscheinliche Route wäre dabei der Seeweg zwischen dem südlichen Weddellmeer und dem Rossmeer gewesen. "Das konnte nur geschehen, wenn der Eisschild vollständig zusammengebrochen war", erklärte Lau gegenüber dem britischen "Guardian".

Zu ähnlichen Erkenntnissen kamen Wissenschafter auch in früheren Untersuchungen: Eine Gruppe um Jan Strugnell von der La Trobe University (Australien) berichtete schon 2012 im Fachjournal "Molecular Ecology", dass die DNA des Turquet-Kraken auf einen Zusammenbruch des Westantarktischen Eisschildes im Verlauf der vergangenen 200.000 Jahre hindeutet. Möglich ist dies, weil Informationen über die Veränderungen in den Genen des Kraken wie eine biologische Uhr gelesen werden können. Dadurch, so Lau und ihr Team, lasse sich der Zeitraum, in dem sich die Kraken vom südlichen Weddellmeer und dem Rossmeer vermischt haben, verhältnismäßig genau bestimmen.

Düstere Prognose

Zwar befindet sich die Studie noch in der Begutachtungsphase, ist also noch nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Die Forschenden präsentierten ihre Resultate trotzdem schon auf dem Preprintserver bioRxiv der wissenschaftlichen Gemeinschaft, um die Dringlichkeit der Ergebnisse zu unterstreichen, erklärte Lau. Und die ergibt sich nicht zuletzt aus der Annahme, dass während der letzten Zwischeneiszeit die globalen Durchschnittstemperaturen zwischen 0,5 und 1,5 Grad Celsius höher lagen als in der Zeit vor der Industriellen Revolution.

Die nun vorgestellten Ergebnisse würden also darauf hindeuten, dass schon bei einer globalen Erwärmung von "nur" 1,5 Grad Celsius der Westantarktische Eisschild zusammenbrechen könnte. Hinweise darauf gibt es bereits einige, der Eisverlust in der Westantarktis hat sich laut jüngsten Beobachtungen in den letzten zwei Jahrzehnten tatsächlich beschleunigt. (tberg, 8.2.2023)