Intensiver Blick: Unter den 28 Werken befinden sich auch durch popkulturelle Verbreitung ikonisch gewordene Bilder wie "Das Mädchen mit dem Perlenohrring".
Foto: Mauritshuis / Arnoldus Andries des Tombe

Er muss gerade erst angekommen sein. Hastig hat die Frau im blauen Morgenmantel den Brief dem Kuvert entnommen, das zerknittert am Tisch liegen bleibt. Nicht einmal hinsetzen möchte sie sich. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem Geschriebenen, ihr gebannter Blick ist auf das Papier gesenkt. Welche Neuigkeiten erfährt sie? Handelt es sich um einen Liebesbrief? Wer ist der Absender?

Genauso wie seine Bilder gibt auch der Künstler selbst 350 Jahre nach seinem Tod Rätsel auf. Johannes Vermeer gilt als Enigma, da man über das Privatleben und die berufliche Laufbahn des niederländischen Malers nur wenig weiß – weswegen man ihn auch "Sphinx von Delft" nennt. Seine kleinformatigen Gemälde mit den intimen, häuslichen Szenen sind weltbekannt. Nun bringt der Meister der Stille Trubel in seine Heimat und liefert die Show der Superlative im Kleinformat.

Mit einer außergewöhnlichen Einzelausstellung ist es dem Amsterdamer Rijksmuseum gelungen, erstmals 28 Werke des Künstlers zu vereinen – darunter auch durch popkulturelle Verbreitung ikonisch gewordene Bilder wie Das Mädchen mit dem Perlenohrring. Eine Meisterleistung – immerhin existieren weltweit nur 37 Bilder Vermeers, die auf 19 internationale Sammlungen verstreut sind. Viele der Institutionen lassen ihre Werke unter normalen Umständen nicht verreisen.

Einblicke: Die ultramarinblauen Farbpigmente im Mantel der "Briefleserin in Blau" trug Vermeer in einem komplexen Schichtverfahren auf, um den strahlenden Effekt zu erzielen.
Foto: Rijksmuseum / A. van der Hoop Bequest

Entlarvende Scans

Auslöser für das Projekt waren Umbauarbeiten der Frick Collection in New York, die ihre drei Vermeers deshalb in die Welt schickte, wodurch andere Institutionen überzeugt werden konnten, sich dieser "Familienzusammenführung" in Amsterdam anzuschließen. Bedauerlicherweise fehlt das Gemälde Die Malkunst aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, da es aus konservatorischen und rechtlichen Gründen nicht verreisen konnte.

Jedenfalls ist der Andrang auf diese "Once-in-a-Lifetime-Show" bereits vor der Eröffnung enorm – 200.000 Tickets wurden verkauft. Notiz für eingefleischte Fans: Eine derartige Dichte an Werken des 1632 in Delft geborenen Künstlers wird es wahrscheinlich nicht noch einmal geben. Erst eine Einzelschau zuvor, die in den Neunzigern in Den Haag und Washington stattfand, brachte ein Vermeer-Solo zusammen.

Die bis Juni laufende Präsentation begleitet auch ein Forschungsprojekt, das die zwischen 1654 und 1672 entstandenen Gemälde in Kooperation mit dem Mauritshuis in Den Haag mittels neuester Technik untersucht und laufend analysiert. Zwar verraten erste Ergebnisse wenig Neuigkeiten über das Privatleben des Künstlers, sie liefern aber spannende Einsichten in dessen Arbeitsweise. Beispielsweise trug er die ultramarinblauen Farbpigmente im Mantel der Briefleserin in Blau in einem komplexen Schichtverfahren auf, um den strahlenden Effekt zu erzielen. Wahrscheinlich kam Vermeer, der mit einer Katholikin verheiratet war, durch Einfluss der Jesuiten in Kontakt mit der Technik der Camera Obscura. Wodurch sein optisches Spiel mit Schärfe und Perspektive erklärt werden kann.

Von der "Briefleserin am offenen Fenster" wurde 2019 eine nachträglich ergänzte Farbschicht abgetragen, da diese – wie kürzlich erst belegt – nicht von Vermeer stammte.
Foto: Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden

Röntgenscanner legen offen, dass Vermeer wie bei Dienstmagd mit Milchkrug bereits geschaffene Elemente im Hintergrund (Wandregal und Kohlekorb) übermalte, um der in Gedanken versunkenen Protagonistin mehr Monumentalität zu verleihen. Durch die so geschaffene Leere steht nur sie im Bildzentrum.

Anders verhält es sich bei der Briefleserin am offenen Fenster aus der Staatlichen Kunstsammlung Dresden. 2019 wurde eine nachträglich ergänzte Farbschicht abgetragen, da diese wie kürzlich erst belegt nicht von Vermeer stammte, und so ein Cupido-Gemälde im Hintergrund freigelegt. Vermeers akribische Vorgangsweise belegt, wie intensiv und perfektionistisch er arbeitete – und warum der bereits mit 43 Jahren verstorbene Maler so wenige Bilder produzierte. Pro Jahr sollen es nur zwei gewesen sein.

Wer beobachtet hier wen?

Aber was genau macht Vermeers Werke so besonders? Was zeichnet seinen typischen Stil aus? Einem bis ins Detail ausgefeilten Stillleben ähnlich entführen die intimen Szenen in mit oft denselben Teppichen, Vorhängen, Krügen, Landkarten und Gemälden ausgestattete Innenräume. Nichts regt sich, es scheint mucksmäuschenstill. In dieser absoluten Versunkenheit im Moment liegt die Kraft seiner Gemälde.

Meist stehen Frauen in dessen Zentrum, die man beim Lesen von Briefen, beim Musizieren oder der Handarbeit antrifft. In diesen privaten Kosmos dringt von außen neben dem Tageslicht, das durch das bei Vermeer obligatorische Fenster strahlt, lediglich man selbst als Beobachterin ein.

Röntgenscanner legen offen, dass Vermeer wie bei "Dienstmagd mit Milchkrug" bereits geschaffene Elemente im Hintergrund (Wandregal und Kohlekorb) übermalte ...
Foto: Rijksmuseum
... um der in Gedanken versunkenen Protagonistin mehr Monumentalität zu verleihen. Durch die so geschaffene Leere steht nur sie im Bildzentrum.
Foto: Rijksmuseum / Vereniging Rembrandt

Eine andere Intensität erzeugte Vermeer in jenen Werken, in denen er den Blick der Dargestellten auf den Bildbetrachter lenkte. In diesen Fällen fühlt man sich ertappt und zugleich von ihnen beobachtet. Wer sind diese Frauen? Bilder wie Das Mädchen mit dem Perlenohrring (nur bis 31. März in Amsterdam) oder Das Mädchen mit rotem Hut schuf Vermeer zwar nach lebendigen Modellen, jedoch sind es keine Porträts. Bei sogenannten "Tronies" handelt es sich um Charakterköpfe und fiktive Figuren in Kostümen, die damals als sehr populär galten.

Neben den Signature-Bildern des Malers präsentiert die thematisch aufgebaute Ausstellung auch weniger bekannte Arbeiten, in denen er christliche Symbolik aufgriff. Die wenigen Werke werden mit angemessener Information unterfüttert und ungemein stilvoll in Szene gesetzt. Meterlange Samtvorhänge in Tiefgrün, Auberginenlila und Königsblau umrahmen diese Kunstjuwelen – und geben ihnen trotz des Trubels etwas Privatsphäre. (Katharina Rustler aus Amsterdam, 9.2.2023)