Wie ein Kartenhaus zusammengefallen: Gebäude in der türkischen Stadt Kahramanmaraş, nahe dem Epizentrum des Bebens.

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Die Dimension des Erdbebens, das am Montag Teile der Türkei und Syriens getroffen hat, sickert erst langsam ein: Die bestätigte Opferzahl hat am Mittwoch 11.000 überschritten. Laut den Berechnungen, wie viele Menschen noch unter den Trümmern begraben sein könnten, könnte sich die Katastrophe in die größten der letzten Jahrhunderte einreihen. Es handelt sich um ein klassisches Erdbebengebiet.

Am schlimmsten betroffen sind ein ethnisch und religiös vielfältiger Kulturraum und zwei Staaten mit sehr unterschiedlichen politischen Ausgangslagen, die Türkei und Syrien. Im Kriegsland Syrien sind auch Gebiete verwüstet, die nicht vom Regime kontrolliert werden. Aber überall bietet sich das gleiche Bild der Verzweiflung und Überforderung, der Hilfe, die zu spät kommt. Weil das Ausmaß der Zerstörung ganz einfach zu groß ist.

Dass es bei Empathie und Hilfe keine politischen Grenzen geben sollte, scheint eine Forderung, die der Humanismus gebietet – und die sich als nicht erfüllbar erweist. Die internationale Hilfe kommt einstweilen allein schon wegen der Verfügbarkeit der Infrastruktur vor allem in der Türkei an, wo jede helfende Hand gebraucht wird.

Nur ein Grenzübergang

Aus den betroffenen Gebieten Syriens wird berichtet, dass verfügbare Rettungswägen und Bergungsgeräte mangels Benzins teilweise nicht einmal einsetzbar sind. Das syrische Regime hat zwar jetzt offiziell das Ausland um Hilfe gebeten, denn Bashar al-Assads Protektoren Teheran und Moskau können das allein nicht leisten. Ob Damaskus wirklich bereit ist, Kontrolle aus der Hand zu geben – oder, wie berichtet wird, in den Rebellengebieten die chaotische Situation noch für Militäroperationen ausnützt –, bleibt zu sehen. Zwischen der Türkei und Syrien darf laut Abmachungen von der Uno nur ein Grenzübergang benützt werden, und der ist wegen zerstörter Straßen derzeit nicht passierbar.

Auf alle Fälle wird das Assad-Regime das Versorgungsmonopol für sich zu nützen wissen. Auslandssyrer und -syrerinnen kommentieren verbittert, was in den ersten beiden Tagen nicht zu leugnen war: die Konzentration der ersten internationalen Hilfe auf die Türkei. Logistische Argumente, warum das so ist, verfangen nicht: Die Menschen werden politische Absicht dahinter sehen, dass sie auf Hilfe länger warten müssen als die Menschen auf der türkischen Seite der Grenze.

Türkische Erdbebensteuer

Dort hat der starke Mann, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, zwei Tage gebraucht, bis er den Weg in das Erdbebengebiet gefunden hat. Er beschwor Erinnerungen an die Katastrophe von 1939, bei der mehr als 33.000 Menschen getötet wurden. Am eigenen Anspruch gemessen, sollte die Türkei viel besser auf eine Katastrophe dieser Art vorbereitet sein als früher – und als das kriegsgebeutelte Syrien. Auch dort, wo jetzt Wohnblöcke wie Kartenhäuser zusammengebrochen sind, zahlen die Menschen eine Erdbebensteuer, die in den letzten beiden Jahrzehnten, seit dem Beben von Izmit 1999, in sichere Bauten hätte fließen sollen – und nicht in einer korrupten Verwaltung versickern.

Das wird zu Recht dem angesichts der Wirtschaftsdaten ohnehin schon angeschlagenen Erdoğan, dem im Mai Wahlen bevorstehen, angelastet werden. Er kann sie etwas verschieben, aber nicht absagen. Wer glaubt, in der kurdischen Peripherie, die von der Katastrophe besonders betroffen ist, hätte er ohnehin keinerlei Unterstützung, sitzt einer Vereinfachung auf. Das Erdbeben könnte Erdoğans politisches Ende beschleunigen. Man würde sich andere Gründe dafür wünschen. (Gudrun Harrer, 8.2.2023)