Pazarcik, Geburtsstadt von Ali Gedik, ist weitgehend zerstört. Er lebt seit 30 Jahren in Wien und versucht, Kontakt mit einem Bruder im Katastrophengebiet zu halten: "Es geht mir sehr schlecht."

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Es war das weltweit verheerendste Erdbeben seit über einem Jahrzehnt. Mehr als 11.000 Tote wurden am Mittwochnachmittag bereits im türkisch-syrischen Grenzgebiet gezählt, wo in der Nacht auf Montag und einige Stunden später zwei Beben der Stärke 7,8 und 7,5 die Erde erschüttert hatten. Nach Überlebenden wird in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten weiterhin fieberhaft gesucht.

Unter den bisherigen Toten sind auch zwei Österreicher, wie das Außenministerium mitteilte. Weitere Vermisste gab es bis dato nicht. Viele Menschen in Österreich haben aber Angehörige in den betroffenen Gebieten. Aktuell leben allein rund 118.000 türkische und 68.000 syrische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Österreich. Die Zahl der Menschen mit türkischen Wurzeln wird auf 200.000 bis 300.000 geschätzt. Und viele von ihnen haben durch das Beben nahe Angehörige, Freunde und Bekannte verloren.

Einer von ihnen ist Ali Gedik. Und er schläft kaum dieser Tage: "Es geht mir sehr schlecht." Seine Geburtsstadt Pazarcik, in deren Nähe das Epizentrum des Erdbebens lag, ist nicht wiederzuerkennen. Eine Tante, bei der der nun in Wien wohnende Kurde aus der Türkei während seiner Hauptschulzeit lebte, kam bei der Katastrophe ums Leben, mehrere Bekannte ebenfalls.

Schreie von Verschütteten

Gediks Bruder hatte mehr Glück, wobei die Schwierigkeiten für Überlebende wie ihn nun so richtig spürbar werden: "Er hat zu mir gesagt, dass er Angst hat, frierend zu sterben", erzählt Gedik. Nachts würden sich die Überlebenden in Autos setzen, um sich so ein wenig vor den kalten Temperaturen zu schützen. Wenn Gediks Bruder durch die Straßen gehe, um etwa Wasser aufzutreiben, höre er die Verschütteten schreien. Mit seinen geretteten Angehörigen in Kontakt zu bleiben, wird für Gedik immer schwieriger: "Von meinem Bruder habe ich jetzt schon länger nichts mehr gehört. Wahrscheinlich hat er keinen Akku mehr, Lademöglichkeiten gibt es nicht."

Den Schilderungen von Gediks Bruder zufolge sei die Hilfe viel zu langsam angelaufen. "Das ist eigentlich Aufgabe der Regierung", sagt Gedik – und dabei ist Zorn durchzuhören. Berührend ist für ihn hingegen die große Hilfsbereitschaft in Wien: "Es gibt wahnsinnig viele Menschen, die von Herzen unterstützen wollen." Arabische, kurdische und türkische Künstlerinnen seien etwa auf Gedik zugekommen, gemeinsam wollen sie in den nächsten zwei Wochen ein großes Benefizkonzert veranstalten.

Zu spenden und Spenden zu sammeln sei ohnehin die einzige Möglichkeit, vom Ausland aus helfen zu können, sagt Gedik. Ob er überlegt habe, in die Türkei zu fliegen? Das sei keine Option: Als Regimekritiker ist es ihm nicht möglich, dort einzureisen.

Auch weitere Betroffene bangen um Menschen in den betroffenen Gebieten. Ali, der lieber anonym bleiben will, lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Wien. Dieser Tage ist er nur am Handy: Er ist mit Verwandten und Freunden in Kontakt, viele haben Angehörige verloren. Die engsten Nachbarn aus seinem Heimatdorf, die in Iskenderun lebten, sind beim Erdbeben ums Leben gekommen.

Helfen mit allen Mitteln

Alis Cousin hat sich bereits auf den Weg in die Türkei gemacht, er will helfen, sucht Angehörige in Kahramanmaras. Auch viele andere Bekannte aus Wien sind auf dem Weg in die Türkei. Ali hat Zweifel, ob sie alle wirklich helfen können oder vor Ort nicht eher selbst ein Hindernis darstellen könnten. Ärzte sind in die Türkei aufgebrochen, aber auch Baggerfahrer oder Lastwagenfahrer. "Es gibt dort nichts mehr, womit sie helfen könnten", sagt Ali. "Aber sie versuchen es mit allen Mitteln, auch mit bloßen Händen."

Aus Wien, aus Istanbul oder Ankara: Ali kennt viele, die schon aufgebrochen sind, um Verwandte zu suchen oder ihnen zu helfen. Sie haben nicht nur Geld mit, sondern auch Kleidung. In den betroffenen Gebieten ist es sehr kalt, und die Menschen dort haben alles verloren, haben keinen Zugang zu einer Unterkunft. Aber es sei ganz schwierig bis unmöglich, derzeit nach Hatay zu kommen. Der Flughafen ist gesperrt, mehr als die Hälfte der Stadt ist dem Erdboden gleichgemacht. Aus Telefonaten weiß Ali, dass dort Chaos herrscht. Verwandte versuchen über Flughäfen in benachbarten Städten, die noch offen sind, sich der betroffenen Region anzunähern.

Keine Transportmittel

Routen werden ausgetauscht, das Schwierigste ist die Suche nach dem richtigen Flughafen. Diyarbakir soll noch offen sein, aber die Route nach Malatya oder Kahramanmaras führt durch zerstörtes Gebiet, es gibt derzeit praktisch keine Transportmittel.

Aber auch hierzulande leiden viele Menschen nach wie vor unter den Folgen des Erdbebens – ob sie um Angehörige trauern oder bangen, dass Verwandte und Freunde lebend gefunden werden. Möchten Menschen mit Angehörigen in der Erdbebenregion in Österreich professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, können sie sich an Kriseninterventionsteams wenden. Diese werden je nach Bundesland von unterschiedlichen Organisationen gestellt, in Wien etwa vom Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK). "Üblicherweise werden diese Teams von Einsatzorganisationen aktiviert, aber es können sich auch Privatpersonen an sie wenden", sagt Barbara Juen, Leiterin der Psychosozialen Dienste im ÖRK.

Das Wichtigste für Betroffene sei Information. Diese sei vor allem bei den türkischen Behörden zu erhalten. Besteht kein Kontakt zu Angehörigen und Freundinnen vor Ort, können sich Betroffenen in Österreich auch an den Suchdienst des Roten Kreuzes wenden (01/58900-126). Hilfreich sei, sich als Familie zu koordinieren: "Damit nur einer anruft und nicht fünf Leute", rät Juen. Weiterer Tipp: "Als Familie zusammenbleiben und versuchen, eine gewisse Alltagsstruktur aufrecht zu erhalten, damit nicht alles diesem Ereignis untergeordnet wird." Wem es schwerfalle, zu essen, der solle zumindest darauf achten, genug zu trinken: Leide die physische Stabilität, sei es schwierig, sich um die psychische zu kümmern.

Erdoğan besucht Gebiete

Unterdessen hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Mittwochmittag vor Ort ein Bild der Lage gemacht. Bei einem Auftritt im weitgehend zerstörten Kahramanmaras, der Stadt, die am dichtesten am Epizentrum des Bebens liegt, versprach er den Betroffenen finanzielle Unterstützung und Bereitstellung von Wohnraum. Er räumte ein, dass es am Montag, dem ersten Tag nach dem Beben, große Schwierigkeiten gab, genügend Hilfskräfte ins Erdbebengebiet zu bringen. Tatsächlich haben an verschiedenen Orten der Region wie auch in sozialen Medien schon Betroffene wegen der mangelnden Hilfe protestiert.

Wohl auch wegen dieser Stimmung war Erdoğan schließlich doch selbst angereist – umringt von seinen engsten Beratern und Bodyguards. Ein direkter Kontakt mit den verzweifelten Bewohnern von Kahramanmaras wurde allerdings nicht zugelassen. Einen Gang durch das Trümmerfeld der Stadt ersparte sich Erdoğan. (Jürgen Gottschlich, Stefanie Rachbauer, Martin Tschiderer, Michael Völker, 8.2.2023)