Ylva Johansson aus Schweden setzt als Kommissarin für Inneres auf mehr Abschiebungen.

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EU-Gipfel sind für viele Regierende ein willkommener Anlass, sich mit "starken Ansagen" in die Schlagzeilen zu bringen. So war das auch im Vorfeld des Sondertreffens der 27 Staats- und Regierungschefs Donnerstag in Brüssel.

Dieses war vom niederländischen Premier Mark Rutte und Bundeskanzler Karl Nehammer erzwungen worden. Die beiden hatten beim Dezembergipfel den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens verhindert. Der eine hatte rechtsstaatliche Bedenken zu Bulgarien. Nehammer begründete sein Nein mit der starken Zunahme irregulärer Migration auf der Balkanroute, von der Türkei Richtung Zentraleuropa, Westen und Norden.

Der größte Teil der Asylwerber in Österreich (2022: knapp 110.000) war von einem EU-Eintrittsland unregistriert bzw. illegal über die Grenzen gekommen. Ein großer Anteil zog weiter in andere Länder, oft ohne Chance auf Asylanerkennung. Ratspräsident Charles Michel berief also den aktuellen Sondergipfel extra zum Thema Migration ein. Es müsse 2023 gelingen, Durchbrüche zu erzielen bei dem seit 2017 heftig umstrittenen wie heiklen Paket zu Asyl und "irreguläre Migration", wie es offiziell in Dokumenten heißt.

Hintergrund: In etwas mehr als einem Jahr, im Mai 2024, finden die nächsten Europawahlen statt. Die gemäßigten, EU-freundlichen Parteien befürchten, dass sie durch Erfolge der Rechtspopulisten noch mehr unter die Räder kommen als bei den Wahlen 2019 ohnehin.

Zu wenig Geld da

Daher wird es beim Migrationsgipfel tendenziell vor allem darum gehen, wie man gemeinschaftlich mehr restriktive Maßnahmen ergreifen könnte. Die EU-Kommission will zwar kein EU-Geld zur Errichtung neuer Grenzzäune an den EU-Außengrenzen zur Verfügung stellen. Mit rund sechs Milliarden Euro insgesamt für Migration hat sie wenig Budget für so etwas. Aber die zuständige Kommissarin Ylva Johansson hat zugestanden, dass die EU-Rückführungsquote von einem Drittel viel zu gering ist. Auch will sie die Sicherung der Außengrenzen durch die Behörde Frontex verstärken, aber eher durch mehr Beamte als durch Zäune. Seit Wochen wurde darüber und über eine Reihe anderer Elemente in einem breiteren Maßnahmenpaket verhandelt.

Über mehr Druck auf Drittländer bei Handelsbeziehungen beispielsweise sollen Abschiebungen forciert werden, mit neuen Rückführungsabkommen. Es sind aber vor allem Mitgliedsstaaten, die diese Linie vorantreiben, wobei sich vor dem Gipfel neue Allianzen bildeten.

Eine Achter-Allianz

So taten sich acht Länder zusammen, um in einem Brief an Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Michel ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen: Österreich, drei baltische Staaten, die Niederlande und das in Sachen Migration strenge Dänemark, aber auch Malta und Griechenland, die sonst kritisiert werden, weil sie Migranten und Flüchtlinge weiterschicken.

Im Schreiben nennen sie das Schengen-System "kaputt", eine Formulierung, die in Wien gerne verwendet wird. Die acht fordern mehr EU-Gelder zum Außengrenzenschutz. Ob das "Zäune" oder andere Mittel sind, das wird sich am Ende in den Schlusserklärungen des Gipfels wiederfinden – oder auch nicht. Nehammer drohte laut der Zeitung Die Welt vorab damit, der Erklärung seine Zustimmung zu verweigern, den Gipfel – den er wollte – zu "blockieren". Der Kanzler will zwei Milliarden Euro für Bulgarien.

Eine leere Drohgebärde, glauben Diplomaten, am Ende werde man sich zu Kompromissformeln durchringen, die restriktivere Maßnahmen versprechen, ohne allzu deutlich zu werden. Eine Variante: Die EU-Kommission lässt Bulgarien aus anderen Titeln Geld zukommen. Das Land baut die Zäune selbst, so wie Polen bei der Belarus-Krise.

Die Teilnahme des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, seine Rede vor dem EU-Parlament erstmals seit Kriegsausbruch, dürfte das Thema Migration medial aber zurückdrängen. Zudem wollen sich "die Chefs" auch mit Antworten auf US-Wirtschaftshilfe für umweltfreundliche Industrie befassen. (Thomas Mayer, 9.2.2023)