Rettungskräfte setzen ihre Arbeit vor einem eingestürzten Haus in Kahramanmaraş in der Türkei fort.

Foto: REUTERS/Ronen Zvulun

Gaziantep/Idlib – Nach dem verheerenden Erdbeben, das mit einer Stärke von 7,8 Montagfrüh das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert hat, ist die Zahl der Toten auf mehr als 19.000 gestiegen. Es gebe inzwischen 16.000 Tote allein in der Türkei, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Donnerstag in der vom Beben getroffenen Provinz Gaziantep. Hinzu kommen um die 70.000 Verletzte in der Türkei und in Syrien. Aus Syrien waren zuletzt mindestens 3.200 Tote gemeldet worden. Die EU will Anfang März eine Geberkonferenz für Syrien und die Türkei abhalten.

Temperaturen verschärft Situation

Viele betroffene Gebiete waren auch am Donnerstag nicht oder nur schwer zugänglich. Allein in der südosttürkischen Millionenstadt Gaziantep seien 944 von insgesamt mehr als 6.400 Gebäuden zerstört worden. Mit dem Fortschreiten der Bergungsarbeiten steigen naturgemäß die Opferzahlen. Gleichzeitig sinkt die Wahrscheinlichkeit, Überlebende bergen zu können, von Stunde zu Stunde.

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DER STANDARD

Verschärft wird das Problem durch teils eisige Temperaturen – vor allem in der Nacht. Mehr als 100.000 Helferinnen und Helfer sind in der Türkei laut Regierungsangaben im Einsatz. Sie werden von Suchhunden unterstützt. Auch Kräfte aus Österreich sind ins Krisengebiet gereist.

"Defizite" im Krisenmanagement

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte am Mittwoch "Defizite" im Krisenmanagement nach der Katastrophe eingeräumt. Bei einem Besuch zweier besonders betroffener Regionen sagte er allerdings auch, es sei nicht möglich, "auf ein solches Erdbeben vorbereitet zu sein".

Überlebende wärmen sich im türkischen Kahramanmaraş am Feuer.
Foto: Reuters / Suhaib Salem

Noch immer werden in beiden Ländern viele vermisste Menschen unter den Trümmern vermutet. Angaben der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge sind allein in der Türkei mehr als 6.000 Gebäude eingestürzt. Mehr als 13,5 Millionen Menschen seien von den massiven Erdstößen betroffen.

Dem Sender TRT World zufolge konnten in der Türkei bisher etwa 8.000 Menschen aus den Trümmern gerettet werden. Eine Reporterin des Fernsehkanals berichtete über den verzweifelten Kampf gegen die Zeit: "Die Retter weigern sich, aufzugeben." Aber die Momente der Freude über eine weitere Rettung würden immer seltener.

Überlebensgrenze bei 72 Stunden

Trotzdem gibt es noch immer Erfolgsmeldungen: So wurde in der türkischen Provinz Kahramanmaraş ein 24-jähriger Mann rund 64 Stunden nach dem Beben gerettet. In der Provinz Hatay konnte nach Angaben vom Mittwochabend eine 75-Jährige 60 Stunden nach der Naturkatastrophe aus den Trümmern befreit werden. In der Südprovinz Adiyaman wurde ein sieben Monate altes Baby lebend gefunden.

Drei Menschen hat das österreichische Hilfskontingent nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei bereits aus den Trümmern gerettet. Das sagte Sprecher Pierre Kugelweis, der sich mit der Spezialeinheit aktuell an Ort und Stelle aufhält, am Donnerstag der APA. Doch den 85 Soldaten rinnt die Zeit davon.

Ozan Ceyhun, Botschafter der Türkei in Österreich, beschreibt im ORF-Interview die Lage nach dem verheerenden Erdbeben in seinem Land.
ORF

Die Rettungsteams arbeiten unermüdlich, um noch Überlebende zu finden. Die kritische Überlebensgrenze liegt normalerweise bei etwa 72 Stunden. Bilder aus den Katastrophengebieten zeigten auch in der Nacht auf Donnerstag Bagger, die Schutt abtrugen. Angehörige Verschütteter warteten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf erlösende Nachrichten.

Konvoi Richtung Syrien unterwegs

Zur Unterstützung der nur schwer erreichbaren Erdbeben-Opfer im Nordwesten Syriens sind am Donnerstag sechs Lastwagen mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen eingetroffen. Die Transporter seien aus der Türkei gestartet und hätten den einzigen noch offenen Grenzübergang Bab al-Hawa passiert, hieß es von den UN. Wegen Schäden an Straßen konnten die Lastwgen Bab al-Hawa bisher nicht erreichen.

Inzwischen konnten die Straßen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge aber teilweise wieder repariert werden. Der Grenzübergang Bab al-Hawa war schon vor dem Erdbeben eine Lebensader für rund 4,5 Millionen Menschen in Gebieten im Nordwesten des Landes, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden. 90 Prozent der Bevölkerung waren dort bereits vor der Katastrophe nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden. Zu ihrem Leid kommen unter anderem mangelhafte Ernährung, Cholera, kaltes Winterwetter und nun die Folgen der Erdbeben hinzu.

Menschen berichten von Bombardierungen in Syrien

Im Gespräch mit dem Ö1-"Morgenjournal" berichtete Markus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen nicht nur von den immensen Problemen, die seine und andere Organisationen bei der Hilfe hätten. Er bestätigte auch, dass zahlreiche Menschen, die das Hilfszentrum erreichen, von fortgesetztem Beschuss und Bombardierungen in ihrer Heimatregion berichten. Demnach dürften entsprechende Medienberichte stichhaltig sein, in denen es hieß, dass die Kämpfe trotz des Bebens und seiner Folgen weitergehen.

Die Berichte stimmen im Wesentlichen überein mit dem, was das Onlineportal Middle East Eye (MEE) schon am Dienstag unter Berufung auf syrische Quellen und britische Abgeordnete berichtet hatte: Demnach führten Truppen des syrischen Machthabers Bashar al-Assad einen Angriff auf Marea, eine Stadt 35 Kilometer nördlich von Aleppo durch – genau während Einwohner versuchten, andere Menschen aus den Trümmern zu retten.

Aktivisten hatten zuvor berichtet, dass nach dem Erdbeben zwar keine Hilfsgüter, stattdessen aber Leichen von Syrern aus der Türkei über den Grenzübergang transportiert würden. In der Türkei leben Millionen syrische Flüchtlinge. Die syrische Grenzbehörde veröffentlichte Fotos von Kleinbussen, aus denen Leichensäcke in andere Fahrzeuge umgeladen werden. Seit den Erdbeben am Montag kamen der Behörde zufolge mehr als 300 Leichen von Syrern über Bab al-Hawa nach Syrien.

Twitter in der Türkei funktioniert wieder

Der Kurznachrichtendienst Twitter ist laut Deutscher Presseagentur nach einer mutmaßlichen Sperre von der Türkei aus wieder erreichbar. Der Dienst war Donnerstagfrüh auch ohne Tunneldienste (VPN) zugänglich. Die Organisation Netblocks, die für die Beobachtung von Internetsperren bekannt ist, hatte am Mittwoch über die Beschränkung durch mehrere Internetanbieter in der Türkei berichtet. Nutzer konnten den Dienst nur über VPN erreichen. Von offizieller Seite gab es zunächst keine Bestätigung.

Politiker und Prominente hatten scharf protestiert und der Regierung vorgeworfen, die Kommunikation über Twitter vorsätzlich unterbrochen zu haben. In den vergangenen Tagen hatten verschüttete Menschen immer wieder über soziale Medien Hilferufe abgesetzt. (red, APA, 9.2.2023)