Joe Goldberg muss sich in der vierten Staffel der Netflix-Serie "You" mit einem "Eat-The-Rich-Killer" herumschlagen.

Foto: Netflix

Kann Spuren von Spoilern enthalten

Vor kurzem wurde auf Netflix der erste Teil der vierten Staffel von You veröffentlicht. In den vorigen drei Staffeln der Serie ging es um den Buchverkäufer Joe Goldberg, der Frauen ermordete, in die er sich zuvor obsessiv verliebt hatte. In der vierten Staffel dürfte ein Tapetenwechsel anstehen, glaubt man dem Trailer. Joe arbeitet nun als Professor für Literatur in London, wo er in Kreisen der Reichen und Schönen verkehrt ("a circle of the most privileged douchebags", wie es im Trailer heißt). Dort geht ein Serienmörder um, der als "Eat-the-Rich-Killer" bezeichnet wird.

Netflix

Das neue Motiv fällt auf. You scheint damit auf einen Trend aufzuspringen, der gerade allenthalben zu beobachten ist: Eat the rich! Rache an den Reichen.

In aktuellen Serien und Filmen werden die oberen 10.000 gerade gerne vorgeführt, bevor mit ihnen abgerechnet wird – inklusive Blutvergießen: Mal geschieht das subtil, mit feiner Klinge und vielen Zwischentönen (The White Lotus, beide Staffeln), mal plakativ, aber unterhaltsam (The Menu, Glass Onion), mal irgendwo dazwischen (Triangle of Sadness). In all den genannten Fällen wird die Rache von Menschen ausgeführt, die sich in der Hackordnung deutlich weiter unten befinden als ihre Opfer.

Rollenverteilung

Sei es die Sexarbeiterin in der zweiten Staffel der Serie The White Lotus, die den gutgläubigen jungen Feministen ausnimmt, der Koch im Film The Menu, der die Messer gegen die "High Snobiety" wetzt, die Lehrerin Helen, die in Glass Onion dem Musk'schen Tech-Bro das Handwerk legt, oder die Piraten, die in Triangle of Sadness ein Kreuzfahrtschiff angreifen. Mit der Putzfrau, die nach dem Angriff zur Diktatorin unter den Überlebenden aufsteigt und ihre neu gewonnene Macht sichtlich genießt, tritt in Triangle of Sadness auch noch das Motiv der "verkehrten Welt" hinzu. Die Rollenverteilung sieht nun anders aus: Diejenigen, die vorher unten waren – im Falle des Schiffes tatsächlich räumlich unten –, sind nun oben.

NEON

Rückkehr der Klassenfrage

Ist es nur ein Zufall, dass sich die Rache-Erzählung gerade häuft? "Mir scheint, dass die Klassenfrage im Allgemeinen im Moment verstärkt ins Kino zurückkommt – und dann eben auch gerne verknüpft mit der Rache-Erzählung", sagt die Filmwissenschafterin und Universitätsprofessorin Andrea Seier. Sie sieht den südkoreanischen Film Parasite, der 2019 als erster fremdsprachiger Film mit dem Oscar für den besten Film des Jahres ausgezeichnet wurde, als Katalysator für die aktuelle Omnipräsenz der filmischen Rache an den Reichen. Auch im Fall von Parasite werden das Unten und das Oben visuell dargestellt. "Es geht immer um Treppen, die rauf und runter gegangen werden, die Familie, die im Keller lebt, dringt in die Räume der Reichen, die auf einem riesengroßen Grundstück leben, ein.

IGN

Trotz der augenscheinlichen Klassenkampfthematik in diesen Produktionen "geht es in den genannten Fällen nicht um reformistisches Erzählen. Es geht nicht um die Frage, wie Reichtümer gerechter verteilt werden können, sondern es ist ein drastisches, spektakelhaftes Erzählen", sagt Seier.

Am Luxus mitnaschen

Serien wie The White Lotus oder Filme wie Glass Onion mit ihrem Inselfeeling und überbordendem Luxus befriedigen bei den Zuseherinnen und Zusehern gleich zwei Gelüste: Bevor die bösen Reichen bestraft werden, dürfen wir visuell am Reichtum mitnaschen – oder wie es Sam Alder-Bell in einem Artikel für Vulture kritischer formuliert: "At times a frisson of class consciousness serves only as an alibi for an audience eager to live vicariously in luxury" – dass also Klassenbewusstsein nur vorgeschoben wird, um durch den Konsum dieser Produktionen gewissermaßen am Luxus partizipieren zu können. (Es gibt genug Menschen, die dieses Alibi übrigens nicht vorschützen und den Reichen ganz ohne Racheglüste gern beim Reichsein zusehen, denkt man an den großen Erfolg von Serien wie The Kardashians oder Das Klunkerimperium.)

Reichenhass als Distinktionsgewinn

Es stellt sich jedenfalls auch die Frage, an wen die Rache-Erzählung überhaupt adressiert ist. Zwar können sich ein Kinoticket nicht nur die oberen 10.000 leisten, dennoch ist ein Film wie Triangle of Sadness nicht an die Putzfrau aus demselben Film gerichtet, The Menu nicht an einen Tellerwäscher. Eine kulturelle Elite macht diese Filme für eine kulturelle Elite, in der, wie Bell schreibt, "die Feindseligkeit gegenüber den Ultrareichen zu einem Marker kultureller Bildung geworden ist". ("Somehow, hostility to the ultrarich has become a marker of modish cultural literacy.")

SearchlightPictures

Dass sich eine Bildungsschicht lieber mit den Unterdrückten als den Unterdrückern identifiziert, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie tendenziell nicht aus jenen besteht, die im Keller wohnen.

Wer verdient?

Dass der Rache-Erzählungstrend die Reichen wohl eher reicher macht als ärmer, darf angenommen werden. Denn HBO (The White Lotus) oder Netflix (Glass Onion, You) geben nicht aus purer Herzensgüte viel Geld für Erzählungen darüber aus, dass Geld stinkt. Sondern weil Zuseherinnen und Zuseher bereit sind, Geld für die Erzählung von der Rache an den Reichen auszugeben.

Während wir vor dem Laptop sitzend diabolisch über den trotteligen Tech-Bro lachen, dem schlussendlich Gerechtigkeit widerfährt, lachen Menschen wie der Netflix-Co-Gründer Reed Hastings wahrscheinlich trotzdem zuletzt. Sein Vermögen beträgt laut "Forbes"-Liste 3,6 Milliarden Dollar, was ihn zu einem der 1.000 reichsten Menschen auf der Welt macht. (Amira Ben Saoud, 11.2.2023)