Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella war sichtlich gerührt. Denn auf der Bühne des altehrwürdigen Ariston-Theaters von Sanremo hatte der Schauspieler, Komiker, Regisseur und Oscar-Preisträger Roberto Benigni ("La vita è bella") soeben ein Loblieb auf die italienische Verfassung angestimmt – und dabei auch den Vater des anwesenden Staatspräsidenten erwähnt.

Roberto Benigni, Gewinner des Oscar für seinen antifaschistischen Film "Das Leben ist schön" (La vita è bella, 1999), im "Sandwich" zwischen Altschlagerstar Gianni Morandi und Moderator Amadeus (re.).
Foto: EPA / Ettore Ferrari

Der Christdemokrat und spätere mehrfache Minister Bernardo Mattarella aus Palermo war im Jahr 1948 einer der Väter des italienischen Grundgesetzes gewesen. "Die Verfassung und Sie, Herr Präsident, haben also den gleichen Vater: Sie ist somit Ihre Schwester", erklärte Benigni augenzwinkernd an Sergio Mattarella gewandt. Es war ein ergreifender Moment – sowohl für das Publikum im Ariston als auch für die über zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer, die am Dienstagabend den Auftakt des diesjährigen Festivals im Fernsehen mitverfolgten.

Brüder, Hüter und Garant

Der 81-jährige Sergio Mattarella ist nicht nur der "Bruder" der Verfassung, sondern von Amtes wegen auch deren Hüter und Garant. Er nimmt diese institutionelle Aufgabe unaufgeregt, aber mit einer imposanten Unbeirrbarkeit und Konsequenz wahr. Das hat auch mit seiner Lebensgeschichte zu tun: Sein älterer Bruder Piersanti Mattarella, damals Regionalpräsident Siziliens, war 1980 von der Cosa Nostra erschossen worden und starb in seinen Armen. Nach dem Mafiamord an seinem Bruder hatte sich der heutige Staatspräsident entschlossen, seine Tätigkeit als Anwalt aufzugeben und ebenfalls in die Politik zu gehen – um den Rechtsstaat zu verteidigen.

Sergio Mattarella ist der mit Abstand beliebteste Politiker Italiens – und der erste Staatspräsident überhaupt, der dem seit 1951 stattfindenden Gesangswettbewerb in Sanremo seine Aufwartung macht.

Aber der Besuch Mattarellas war kein Zufall: Am Eröffnungstag der 73. Ausgabe des Festivals jährte sich das Inkrafttreten der Verfassung zum 75. Mal – und das war letztlich auch der Grund für Benignis Ode an das Grundgesetz gewesen. Eine bessere Gelegenheit als das populärste und meistdiskutierte TV-Event des Jahres hätten sich Mattarella und Benigni gar nicht wünschen können, um die Bedeutung der Verfassung zu unterstreichen.

Ab Zeitmarke 0:49 wird's hochpolitisch: Roberto Benignis "Liebeserklärung" an die italienische Verfassung und die Meinungs- und Gedankenfreiheit.
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Meinungs- und Gedankenfreiheit

Benigni pries insbesondere den Artikel 21 des Grundgesetzes, der die Meinungsfreiheit garantiert. Und er wies darauf hin, dass die Verfassung unter einem Leitmotiv stehe: dem Antifaschismus. Die Verfassungsväter seien sich trotz ihrer unterschiedlichen politischen Herkunft einig gewesen, dass sich eine menschenverachtende Diktatur wie jene von Benito Mussolini niemals mehr wiederholen dürfe.

Das lässt natürlich auch aufhorchen in einem Land, das seit einigen Monaten von einer Frau regiert wird, die zugleich Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia ist und ein Leben lang in Parteien politisiert hat, in denen es von Duce-Nostalgikern nur so wimmelt. Giorgia Meloni und die meisten Postfaschisten wünschen sich zwar nicht die Diktatur zurück – aber sie sind logischerweise auch keine Antifaschisten.

Am meisten über die "Politisierung Sanremos" aufgeregt hat sich interessanterweise nicht ein Postfaschist aus der Meloni-Partei, sondern Lega-Chef Matteo Salvini. "Die Verfassung muss nicht auf der Bühne des Ariston verteidigt werden", monierte der Vizepremier. Es missfalle ihm, "wenn das Festival mit Inhalten gefüllt wird, die nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben".

Salvini ätzt, Amadeus kontert

Tatsächlich hatte sich der oftmals als Putin-Verehrer deklarierte Salvini schon im Vorfeld des Schlagerfestivals darüber echauffiert, dass am Schlussabend des Festivals am Samstag der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj für einen Videoauftritt zugeschaltet werden sollte, wie dies schon bei den Festivals von Venedig und Cannes und bei der Verleihung der Golden Globes geschah. Der Staatssender RAI knickte darauf ein: Nun soll nur noch ein Brief Selenskyjs verlesen werden.

Salvini blieb freilich fast der Einzige, der über Benignis Auftritt stänkerte. Rückendeckung erhielt der Oscar-Preisträger hingegen ausgerechnet von Senatspräsident Ignazio La Russa, nach Sergio Mattarella der zweithöchste Würdenträger im Land und Gründungsmitglied der Fratelli d'Italia: "Es ist nie falsch, von der Verfassung zu reden", betonte der 75-jährige Postfaschist. Und wie für Benigni sei auch für ihn der Artikel 21 einer der schönsten: "Von der berechtigten Kritik am Faschismus ist das eine der wichtigsten: dass damals die Meinungsfreiheit unterdrückt wurde", betonte La Russa.

Der künstlerische Leiter und Moderator des Festivals, Amadeus Umberto Rita Sebastiani – seit Jahrzehnten immer nur Amadeus genannt –, zeigte sich von Salvinis Kritik ebenfalls unbeeindruckt: "Salvini kritisiert Sanremo schon seit vier Jahren. Wenn ihm das Festival nicht gefällt, dann soll er doch einfach etwas anderes schauen." (Dominik Straub, 9.2.2023)