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"Nicht zurück in die Steinzeit" soll uns die Klimapolitik führen, sagte Ex-Kanzler Sebastian Kurz einmal. Bei genauerem Hinsehen können wir uns von den Steinzeitmenschen aber einiges abschauen. Illustration: Getty Images / Fatih Aydogdu

Illustration: Getty Images/Fatih Aydogdu

Im Norden der Kalahari in Afrika, einer der größten Sandwüsten der Welt, lebt bis heute das Naturvolk der Ju/’Hoansi. Die Menschen führen ein Leben wie in der Steinzeit: Die Frauen sammeln Beeren, Nüsse und Wurzeln, die Männer jagen mit einfachen Werkzeugen Wildtiere – die Beute teilt die Gruppe gemeinschaftlich. Wenn Wasser und Nahrungsmittel zur Neige gehen, ziehen die Nomaden mit ihrem Hab und Gut weiter – bis zu sechsmal jedes Jahr.

Seit der Aufklärung schauen westliche Denker mit dem Überlegenheitsgestus europäischer Kulturnationen auf Naturvölker herab: Jäger und Sammler galten als primitiv, unterentwickelt und unzivilisiert. Als Barbaren. Doch spätestens seitdem Ethnografen in den 1960er-Jahren die Stämme im Rahmen ihrer Feldforschung untersucht haben, hat sich das Bild gewandelt.

Wenige Bedürfnisse, kein Mangel

Der frugale Lebensstil der Nomaden gereichte plötzlich zum Vorbild für die Gegenkultur, die den westlichen Überkonsum ablehnte. Stellvertretend für diesen Bewusstseinswandel steht die Arbeit des US-Anthropologen Marshall Sahlins. In seinem 1972 publizierten Buch Stone Age Economics argumentiert er, dass Jäger und Sammler Überflussgesellschaften gewesen seien.

Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, so Sahlins’ These, würden keinen Mangel und keine Armut kennen, gerade weil ihre Bedürfnisse bescheiden sind. Essen und Trinken, Kleidung, ein Dach über dem Kopf – mehr brauchen die Menschen nicht.

Die Ju/’Hoansi (auch: !Kung) leben bis heute in der Kalahari-Wüste in Namibia.
Foto: Imago/imagebroker/Matthias Graben

Im Einklang mit der Natur

Die Natur hält alle lebensnotwendigen Güter bereit: Steine, Holz, Blätter, Pflanzen, Fleisch, Früchte. An Bau- und Brennstoffen sowie an Nahrungsmitteln mangelt es nicht, im Gegenteil, durch die nachhaltige Nutzung ist alles für alle immer im Überfluss vorhanden. Obwohl durch die Technisierung der Landwirtschaft und Arbeitsteilung im 19. und 20. Jahrhundert die Nahrungsmittelproduktion gesteigert werden konnte, hungern heute relativ mehr Menschen als in der Steinzeit (zur Buchveröffentlichung war es rund ein Drittel der Weltbevölkerung). Hunger sei daher ein Phänomen von Agrar- und Industriegesellschaften, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur fußen, so Sahlins.

Der Anthropologe wies mit seiner Studie die neoklassischen Annahmen über das Wirtschaftssystem zurück. Der Grundsatz der Knappheit sei kein Naturgesetz, sondern von der Marktwirtschaft erzeugt, schreibt Sahlins. Soll heißen: Güter sind rar, weil sie der Mensch künstlich verknappt.

Drei bis fünf Stunden Arbeit pro Tag

Es gibt im Konsumkapitalismus immer irgendein Produkt, das man noch nicht hat und begehrt: die neue Playstation, das Hybridfahrzeug, die Wärmepumpe. Der Anthropologe spricht vom Konsum als einer "doppelten Tragödie", denn jeder Erwerb sei gleichzeitig eine Entbehrung. Diese Fiktion von Knappheit hält den kapitalistischen Motor am Laufen – und stabilisiert ein System, das an seinen Rändern immer instabiler wird.

Sahlins verweist auf ethnologische Untersuchungen, wonach Naturvölker im Schnitt nur drei bis fünf Stunden pro Tag für ihren Lebensbedarf arbeiten müssen – also deutlich weniger als ein durchschnittlicher Angestellter in einer westlichen Industrienation. Dieser Umstand hat den Stamm der Ju/’Hoansi zum internationalen Vorbild der Work-Life-Balance gemacht – wobei dieser Betrachtung auch eine sozialromantische Vorstellung von Wildnis zugrunde liegt.

Leben mit begrenzten Ressourcen

Während die Karrieregurus in ihrem Flat White rühren und auf dem Smartphone ihre Fitness- und Achtsamkeitsapps checken, vergessen sie gerne, dass das Leben in der Kalahari hart ist, und auch die an das Wüstenklima bestens angepassten Nomaden bekommen die Folgen der Erderwärmung zu spüren. Doch gerade mit Blick auf die Auswirkungen des Klimawandels lohnt ein Blick in die Vergangenheit.

Die Ressourcen der Erde sind begrenzt. Das wussten bereits die Menschen der Steinzeit.
Foto: Imago/Marc John

Der Soziologe Philipp Staab schreibt in seinem jüngsten Buch Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, dass in einer globalen Risikogesellschaft Fragen der Selbstentfaltung von der Selbsterhaltung überlagert würden. Im Angesicht der Klimakatastrophe geht es nicht mehr darum, wie man seinen Hobbyraum im eigenen Haus ausstattet oder sein Handicap auf dem Golfplatz verbessert, sondern um schiere Überlebensfragen. Wie können wir unter den Bedingungen begrenzter Ressourcen im Jahr 2100 in Frieden auf der Welt leben?

Vielleicht müssen wir wieder jagen

Die Landwirtschaft und Sesshaftwerdung des Menschen waren globalgeschichtlich betrachtet nur deshalb möglich, weil das Klima mit dem anbrechenden Holozän stabiler wurde. Wenn sich jedoch das Klima um mehrere Grad erwärmt und der Planet in großen Teilen unbewohnbar wird, könnte der Mensch gezwungen sein, wieder zu jagen und zu sammeln.

Wobei es auch hier Zweifel gibt. Nachdem die Gehirnmasse im Lauf der Evolution zugenommen hat, weil das Jagen eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabe ist, ist das Gehirn seit rund 12.000 Jahren – im Gegensatz zur Körpergröße – kontinuierlich geschrumpft. Das belegen Analysen von menschlichen Fossilien. Ein möglicher Grund: Immer mehr Aufgaben werden an Computer und andere Hilfsmittel delegiert. "Werden wir zu dumm sein, um Jäger und Sammler zu sein?", fragte die Fachzeitschrift Futures provokant.

Zweifelsohne kann der moderne Mensch von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften noch einiges lernen – zum Beispiel die Kulturtechnik, mit wenig Ressourcen ein gutes Leben zu führen und wenig Abfall zu produzieren.

Leben ohne Ballast

Die von Naturvölkern praktizierte Subsistenzwirtschaft, die faktisch eine Kreislaufwirtschaft ist, macht nicht nur alle in der Gemeinschaft satt, sondern schont auch die Umwelt.

Die Energiequelle ist die nachhaltigste überhaupt: der Körper. Der Mensch produziert genug Energie, um Tiere zu erlegen, die wiederum weitere Energie liefern und dem Körper unmittelbar zugeführt werden. Überschüsse, die in Lagerstätten aufbewahrt werden müssen, gibt es kaum – die Wildnis ist ein natürlicher Speicher. Die Stämme häufen daher auch keine großen Besitztümer an, weil der Nutzen mit der Tragbarkeit fällt. Alles, was nicht auf Wanderschaft mitgenommen werden kann, ist Ballast.

Der Ethnograf Martin Gusinde, der in den 1920er-Jahren im Rahmen mehrerer Expeditionen nach Feuerland reiste und indigene Völker erforschte, blickte mit einiger Verwunderung auf das Verhalten der Menschen, die ihre Utensilien achtlos herumliegen ließen, ohne ihnen einen sonderlichen Wert beizumessen, der etwa darin seinen Ausdruck fände, sie zu sortieren oder zu ordnen.

Doch dem europäischen Beobachter wurde schnell klar, dass Besitz bloß eine Bürde ist und Güter "unterdrückerisch" wirken können. Die Jäger und Sammler leben autark – und müssen sich nicht um Toilettenpapier im Supermarkt prügeln und ständig konsumieren. Wo man halbnackt herumläuft, braucht man keine Designerklamotten. "Wir sind geneigt, Jäger und Sammler für arm zu halten, weil sie nichts haben", konstatiert Anthropologe Sahlins. "Vielleicht sollten wir uns sie deshalb als frei vorstellen." (Adrian Lobe, 13.2.2023)