Im Gastblog analysiert die Wissenschafterin Nadja Neuner-Schatz den Diskurs um die Konzepte des Tierschutzes und Tierwohls.

Vor etwa 12.000 Jahren veränderte sich etwas Grundlegendes im Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. Mit der neolithischen Revolution begann die Domestikation, und seither befinden sich genutzte Tiere in menschlicher Obhut. Vielleicht haben sich Menschen seither fortwährend Gedanken darüber gemacht, wie Tiere gehalten werden sollen. Vereinsmäßig organisierten sich Tierschützer und Tierschützerinnen aber erst im 19. Jahrhundert, die ersten in Österreich 1846 in Wien und 1860 in Graz. Damals ging es ihnen vor allem um Tierquälerei. Sie prangerten öffentlich und medienwirksam Praktiken an, die als qualvoll und unnötig galten, und richteten ihr Anliegen sowohl an die gesetzgebenden Instanzen wie an die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Es ging darum, Menschen moralisch zu verbessern. Der Tierschutz dieser Zeit war also anthropozentrisch (griech. anthropos = Mensch).

Zwischen Mitleidsethik und Tierrechten

In der Diskussion darüber, was Tieren zugemutet werden könne und wo die Grenzen der menschlichen Verfügung zu ziehen seien, erstarkten in der Folge auch pathozentrische Argumente (griech. pathos = das Leid). So wurde im Tierschutz nicht nur damit argumentiert, Tierquälerei sei eines moralisch integren Menschen nicht würdig. Es ging in einer Art Mitleidsethik auch darum, hervorzuheben, dass Tiere empfindsame Wesen seien, deren Schmerzempfinden und Leidensfähigkeit ausschlaggebend für menschliche Schutzbemühungen sind.

Albert Schweitzer untermauerte den Tierschutz dann Anfang des 20. Jahrhunderts biozentrisch (griech. bios = das Leben): Jedes Lebewesen wolle leben, und dieses Interesse sei zu schützen. Die Tierrechtsbewegung pocht schließlich seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts auch in Form aktivistischer Proteste auf das Recht eines jeden Lebewesens auf sein Dasein. Kritisiert wird, dass Tiere aufgrund ihrer Spezieszugehörigkeit diskriminiert und für den menschlichen Nutzen – auch für die menschliche Ernährung – ausgebeutet und getötet werden.

Tierwohl-Label, Tierwohl-Förderungen, Tierwohl-Pakt

Gegenwärtig wird die Auseinandersetzung zwischen Tierschutz und Tiernutzung von einem neuen Schlagwort dominiert: Es geht um "Tierwohl". Geläufig sind uns mittlerweile Tierwohl-Label, Tierwohl-Förderungen, als jüngste agrarpolitische Intervention in Österreich der Tierwohl-Pakt. Tierwohl ist – wenn man so will – in vieler Munde, es stellt für viele Menschen heute eine zentrale, wenn nicht die einzige Strategie für die Nutztierhaltung der Zukunft dar. Dabei ist der Begriff und das Konzept Tierwohl relativ neu. Im deutschen Sprachgebrauch findet sich eine öffentliche und breitere Verwendung überhaupt erst seit etwa zehn Jahren.

Tierwohl ist ein Begriff mit Geschichte – einer Geschichte, die vor allem auf die menschlichen Interessen Rücksicht nimmt.
Foto: imago images/Rudolf Gigler

Animal-Machines

Als wissenschaftliches Konzept wurde Tierwohl maßgeblich von britischen Wissenschaftern und Wissenschafterinnen rund um Francis William Rogers Brambell in den 1960er-Jahren geprägt. Damals war in Großbritannien eine öffentlich geführte und politisch heikle Diskussion über die Lebensbedingungen von Tieren in der sich nach dem Zweiten Weltkrieg intensiver als zuvor industrialisierenden Landwirtschaft entbrannt.

1964 hatte Ruth Harrison ihr vielbeachtetes Buch "Animal Machines" veröffentlicht und darin breitenwirksam aufgezeigt, dass es in der intensiven Tiernutzung zu einer neuen und bis dahin nicht gekannten Verdinglichung der tierlichen Existenzen kam. Tiere waren zum Faktor einer streng kalkulierten Kosten-Nutzen-Rechnung geworden. In den – wie Harrison schrieb – landwirtschaftlichen Fabrikbetrieben habe die Ausbeutung ein Ausmaß erreicht, bei dem Tiere, ehe sie sterben, nicht mehr leben dürften.

Welfare of Animals – Animal Welfare

Der gesellschaftliche Aufschrei in Großbritannien war groß, die agrarpolitische Reaktion war eine Untersuchungskommission, die Betriebe im ganzen Land aufsuchen und die Lebensbedingungen der gehaltenen Tiere beurteilen sollte. Das Resultat der Untersuchung wurde als sogenannter Brambell Report veröffentlicht, der sperrige Titel lautete aber eigentlich: Report of the Technical Committee to Enquire into the Welfare of Animals kept under Intensive Livestock Husbandry Systems (1965).

Der aufgeheizten Stimmung entgegenwirkend war das "Wohlergehen der Tiere" in den Vordergrund gerückt worden. In der Folge verkürzte sich der Ausdruck "welfare of animal" in der öffentlichen Diskussion und auch im wissenschaftlichen Sprechen schnell auf "animal welfare". Der plakative Ausdruck (mit der Doppelbedeutung: Tierschutz/Tierwohl im Englischen) wurde zum Zankapfel wissenschaftlicher wie agrarpolitischer Auseinandersetzungen, die bis heute andauern.

Der Unterschied zwischen tiergerecht und Tierwohl

Im deutschen Sprachgebrauch unterscheiden wir heute zwischen Tierschutz und Tierwohl. Lange Zeit war aber davon nicht die Rede, sondern von art- oder tier-, auch von tierschutzgerecht. In Österreich beispielsweise diente zur Beurteilung von Tierhaltungssystemen der sogenannte Tiergerechtheitsindex nach Helmut Bartussek, der auch für die Ausarbeitung des österreichischen Bundestierschutzgesetzes aus dem Jahr 2004 maßgeblich war.

Der Fokus lag auf der Haltungsumgebung, die tiergerecht sein sollte. Tierwohl – so die heute gängigen Konzepte – sei jedoch abhängig vom Zusammenwirken von Haltungssystem, Managementpraxis, Tierverhalten und Tiergesundheit. Es geht also nicht nur um den Stall mit seinen Raummaßen, Lichtverhältnissen und der Bodenbeschaffenheit; sondern auch um die langen Liegezeiten bei wiederkäuenden Rindern, das Scharren und Sonnenbaden bei Hühnern oder das Wühlen und Suhlen bei Schweinen. Der Begriff des Tierwohls rückt ins Bewusstsein, dass solche Bedürfnisse befriedigt werden sollten. Die Tiergesundheit mit ausreichender und guter, auch medizinischer Versorgung und dem Schutz vor Verletzungen sicherzustellen erscheint dann nur als Mindestanforderung an die Nutztierhaltung. Die Anpassung an tierliches Verhalten und Vermögen – ein Beispiel dafür ist der oft geforderte tägliche Weidegang für Rinder – gilt angesichts gängiger Praktiken, die Derartiges nicht vorsehen, bereits als zusätzliches Bemühen um gesteigertes Tierwohl.

Tierwohl als Forderung an die Nutztierhaltung

Im öffentlichen Diskurs über Tierwohl, der sich in Tageszeitungen und politischen Reden, aber auch auf alltäglichen Gegenständen wie der Milchpackung am Frühstückstisch manifestiert, scheint Tierwohl etwas zu sein, das Produkte auszeichnet. Es scheint sich bemessen und steigern zu lassen, und wenn auch nicht ganz klar wird, was es eigentlich ist, eines ist unbestritten: Es brauche mehr Tierwohl.

Als Qualitätsmerkmal der Endprodukte verbleibt Tierwohl in einem anthropozentrischen Deutungsrahmen. Tiere bleiben dabei Produktionsfaktoren, und der tägliche Gang auf die Weide verbessert die Milch und das Fleisch. Die Idee, das Wohlergehen der Tiere zu fördern, weist über diese Lesart aber auch hinaus. Sie fordert dazu auf, die gehaltenen Tiere als empfindende, leidende und um ihrer selbst willen zu berücksichtigende Lebewesen wahrzunehmen. Und damit verändert sich auch die moralische Verantwortung ihnen gegenüber.

Die Tierwohlforderung ist also nicht allein eine Frage der strukturellen Anpassung, die Stallumbauten und technische Modernisierung verlangt. Im Stall ist sie auch eine emotionale Herausforderung für tierhaltende Bauern und Bäuerinnen, deren Selbstbild und Wertehorizont. Denn die ökonomische Verwertung der versorgten Tiere erscheint – auch angesichts sich etablierender Alternativen – zunehmend fraglich. Wie sich dadurch das menschlich-tierlich-technische Beziehungsgeflecht in der kleinbäuerlichen Rinderhaltung in Tirol verändert, soll im Zuge meines Dissertationsprojekts am Forschungszentrum Berglandwirtschaft der Universität Innsbruck untersucht werden. (Nadja Neuner-Schatz, 14.2.2023)