Wie Kartenhäuser sind viele Gebäude in der Türkei – hier Kahramanmaraş – zusammengefallen. Wie das sein kann, beschäftigt zunehmend nicht nur die Opposition.

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Tagelang waren ihre schaurigen Rufe in vielen Städten zu hören, doch langsam wird es still. Jene Menschen, die nach dem Beben noch unter den Trümmern in der Südosttürkei und im Norden Syriens gefangen sind, verstummen langsam – nicht weil alle Verschütteten gerettet sind, sondern weil in den eisigen Wintertemperaturen die Chancen auf ein Überleben jede Stunde und Minute weiter sinken. Der Tod von mehr als 20.000 Menschen war in beiden Staaten bis Donnerstagabend gemeldet worden, die wahre Zahl ist wohl höher.

Langsam, wohl zu langsam, kam an vielen Orten die dringend benötigte Hilfe an. Das gilt sowohl für die vielen internationalen Helferinnen und Helfer, die sich einen Weg durch die zerstörte Infrastruktur bahnen müssen, als auch für die Katastrophenteams der betroffenen Staaten. In einigen türkischen Städten, vor allem in jenen mit kurdischer Mehrheit, haben sich zuletzt erste Spontankundgebungen gebildet, die die Vernachlässigung durch Ankara beklagen.

Schlecht zu verdauen

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte mit einem Besuch in den besonders betroffenen Provinzen Kahramanmaraş und Hatay am Mittwoch versucht, das Heft des Handelns zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung wieder an sich zu reißen. Dort hatte er auch die Opposition kritisiert, die ihn seit Beginn des Bebens besonders ins Fadenkreuz genommen hatte. Was er "in der aktuellen Situation besonders schlecht verdauen" könne, sei, wenn Gegner nun aus der Tragödie politischen Nutzen ziehen wollten.

Doch die Vorwürfe, die unter anderem der Chef der Sozialdemokraten, Kemal Kılıçdaroğlu, seiner Regierung macht, sind nicht so leicht von der Hand zu weisen. Seit einem schweren Beben 1999, das in der Stadt İzmit und Umgebung rund 18.000 Tote zur Folge hatte, gilt in der Türkei eigentlich ein noch einmal verschärftes Baugesetz – und es gibt eine Erdbebensteuer, mit der dessen Umsetzung finanziert werden soll. Doch wie Nachforschungen ergeben, sind bei der Katastrophe vom Montag auch zahlreiche Neubauten in sich zusammengefallen. Der Verdacht, dass laxe Überprüfung der Gesetze und womöglich auch Korruption damit in Zusammenhang stehen, drängt sich auf.

Viele Bausünden

Mehrfach hatte die Regierung in den vergangenen Jahren sogenannte Bauamnestien beschlossen, mit denen eigentlich illegal errichtete Bauten im Nachhinein legalisiert wurden. Ein weiteres solches Gesetz lag – im Vorfeld der für Mai geplanten Wahlen – dem Parlament zum Beschluss vor. Eine Erhebung des türkischen Umwelt- und Städtebauministeriums, aus der die BBC zitiert, zeigte 2018, dass die Hälfte aller Bauten in der Türkei entgegen den Vorschriften errichtet wurde.

Wie es mit den Wahlen weitergehen soll, die Erdoğan erst jüngst von Juni auf den 14. Mai hatte vorverschieben lassen, ist offen. Ein namentlich nicht genannter Regierungsvertreter sagte der Agentur Reuters Donnerstag, man habe "die Wahlperiode, die wir gerade begonnen haben, wieder verlassen". Dass es einen dreimonatigen Ausnahmezustand in zehn Provinzen gebe, in denen 15 Prozent der türkischen Bevölkerung von Zerstörungen betroffen seien, zeige, dass "es sehr ernste Schwierigkeiten mit der Abhaltung von Wahlen am 14. Mai gibt".

Es fehlt an allem

Viel weniger als über die Türkei ist weiter über die Lage in Syrien bekannt. 3.000 Tote werden von der Regierung und den in Rebellengebieten tätigen Weißhelmen vermeldet. Das wahre Ausmaß der Tragödie geht aber mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich darüber hinaus. Noch stärker als in der Türkei mangelt es bei Regierung und Rebellen in Syrien an Equipment, das für die Rettung von Verschütteten benötigt wird. Laut New York Times fehlt es da wie dort auch an Treibstoff, um die noch vorhandenen Kräne ausreichend betreiben zu können. Auch ausländische Hilfe erreicht beide Gebiete wesentlich langsamer.

In die große Verwirrung stieß zudem die Meldung, dass die Regierungen Syriens und der Türkei auch nach dem Beben noch Rebellengebiete beziehungsweise von Kurden kontrollierte Regionen in Syrien bombardiert hätten. Ersteres bestätigten am Donnerstag auch Hilfsorganisationen. Die Angriffe fanden aber so kurz nach dem Beben statt, dass der Befehl dazu womöglich schon zuvor erteilt wurde. Kurdische Berichte über Artilleriebeschuss der Türkei nach dem Beben blieben vorerst ohne unabhängige Bestätigung. (Manuel Escher, 9.2.2023)