Wenn sich Autoren eines Textes nicht nur selbst als "weltweit führend" im Bereich des Investigativjournalismus bezeichnen, sondern sich auch zahlreiche Politiker und Kommentatorinnen an den Rändern des politischen Spektrums bei der Beschreibung der Person in Superlative stürzen, ist meist Vorsicht geboten. Als "legendär", "großartig" bis "unerreicht" wird Seymour Hersh dieser Tage auf Twitter gepriesen. Seine Recherche, so der Tenor vieler, sei eine "minutiös recherchierte Bombe". Es geht um die Sabotage an den Nord-Stream-Pipelines im vergangenen Jahr, bei der drei von vier Pipelines mutwillig zerstört wurden, wie eine Untersuchungskommission herausfand. Einen Schuldigen konnte die von Schweden geleitete Kommission bisher nicht definitiv ausmachen, wenngleich ein Sprengstoffanschlag als sicher gilt. Beweise für die Urheberschaft fehlen. Auch die deutschen Behörden ermitteln mit Nachdruck.

Doch Hersh will wissen, dass die USA gemeinsam mit zahlreichen Nato-Partnern dahinterstecken – zumindest behauptet das die einzige, anonyme Quelle, auf der sein Bericht fußt und der Hersh scheinbar ohne große Zweifel zu glauben scheint. Hersh behauptet, der Auftrag hätte außerhalb des Kommandos für Spezialoperationen stattgefunden, um so die Kongresskontrolle zu umgehen. Er behauptet, die Pläne seien schon Ende 2021 geschmiedet worden, deutlich vor dem Beginn der russischen Invasion. Er behauptet auch, dass eine Bombardierung aus der Luft als Kriegsakt gesehen worden wäre, weshalb man sich für die Taucher entschieden haben soll, die Sprengstoff anklebten.

Veröffentlicht wurde der Text auf einem Blog. Nicht veröffentlicht wurde die Geschichte hingegen in einem der großen Medien weltweit, obwohl diese eigentlich größtmögliches Interesse an der Geschichte haben müssten, würde sie sich denn bestätigen lassen. Denn wäre dies der Fall, wäre es tatsächlich die diplomatische und politische Bombe, die manche bereits jetzt sehen.

Mit ein Grund dafür, dass der mit dem Pulitzer-Preis 1970 ausgezeichnete Journalist mittlerweile aber Probleme haben dürfte, seine Recherchen bei großen Medien anzubringen, ist, dass seine Thesen in den vergangenen Jahren immer kurioser wurden, teils ins Verschwörungstheoretische abdrifteten.

Hersh veröffentlichte 1969 die US-Massaker an südvietnamesischen Dorfbewohnern in My Lai, trug zur Aufdeckung des Watergate-Skandals bei, schrieb von Kritikern gelobte Bücher zum sowjetischen Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeugs 1983 und arbeitete an der Aufklärung der US-Kriegsverbrechen im Skandalgefängnis von Abu Ghraib mit.

Allerdings: Später schrieb er den vom Assad-Regime begangenen Sarin-Anschlag auf syrische Zivilistinnen dem Nato-Land Türkei zu, nicht dem prorussischen Assad-Regime. Seine Anschuldigungen, wonach der ehemalige Al-Kaida-Gründer Osama Bin Laden wissentlich von Pakistan als Gefangener gehalten wurde, hat bislang niemand beweisen oder stringent nachvollziehen können. Sein Einsatz gegen den Magnitsky Act, der Menschenrechtsverletzer in den USA bestrafen sollte, brachte auch Kritik mit sich. Bei seiner Kennedy-Kritik fiel er auf gefälschte Dokumente herein.

13-jähriger Geheimagent Stoltenberg?

Dass seine US-kritischen Texte binnen wenigen Stunden nach Publikation nicht nur von russlandfreundlichen Kräften in Europa und den USA, sondern auch vom Kreml selbst propagandistisch verwertet wurden, lässt auch berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt der vermeintlichen Enthüllung aufkommen. "Sie wissen, dass es auch von unserer Seite Erklärungen zu Informationen gab, die auf eine Beteiligung der Angelsachsen an der Organisation dieses Sabotageakts hindeuten", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin drückte sich sogleich etwas harscher aus, setzte US-Präsident Joe Biden wegen des mutmaßlichen Auftrags zur Sprengung etwa mit dem "Terroristen" Harry Truman und dessen Atomwaffeneinsatzbefehl gleich.

Darüber hinaus finden sich in dem Text, in dem eine Elitetaucher-Einheit der US-Marine in Florida als zentraler Akteur agiert, neben falsch geschriebenen Nachnamen deutscher Bundeskanzler auch einige historische Unzulänglichkeiten. So wird dem heutigen Nato-Generalsekretär, dem Norweger Jens Stoltenberg, etwa unterstellt, dass er schon früh ein besonderer Freund der USA gewesen sei und in jungen Jahren, zu Zeiten des Vietnamkrieges, mit Washingtoner Geheimdiensten eng verbandelt gewesen sein soll. Dies soll ein vermeintliches Indiz sein, warum sich das sozialdemokratisch geführte Norwegen im vergangenen Jahr als Operationsbasis anbot.

Die Nachwehen der Sabotage.
Foto: APA/AFP/DANISH DEFENCE/HANDOUT

Zudem hätten die Norweger auch noch das Datum des Einsatzes bestimmt, die richtige Camouflage für den Sprengstoff gefunden und sämtliche nordische Partner vor besonderen Aktivitäten in der Ostsee gewarnt. Einziges Problem: Zur der Zeit, als sich Stoltenberg als Handlanger der US-Geheimdienste im Vietnamkrieg profiliert haben soll, war er gerade einmal 13 Jahre alt. Noch dazu galt er in seiner Jugend als amerikakritisch. Vater Stoltenberg war hingegen in Vietnam. Er verstarb 2018.

Heftige Dementi

Dass das Weiße Haus die Geschichte als "gänzlich falsch und reine Fiktion" und die CIA sie als "traurige Zeitverschwendung" abtut, ist freilich allein kein Beweis für die Unwahrheit der Recherche. Bis auf teils abenteuerliche Mutmaßungen – etwa, dass Stunden vor einer Nato-Übung in dänischen Gewässern der Explosionstransponder plötzlich in einer Hauruckaktion ausgetauscht worden sein soll, um erst Monate später eine Fernzündung zu ermöglichen – bleibt der Artikel von Hersh aber selbst jeden Beweis schuldig und äußert nur vage Mutmaßungen.

Dass die US-Regierung jahrelang gegen die Nord-Stream-Pipelines agitierte, ist zwar wahr. Dennoch finden sich keinerlei Passagen im Text, die etwa auch russische oder Putin'sche Motive für eine Zerstörung der Pipelines ins Visier nehmen. Nicht ins Narrativ der Story passt zudem die Tatsache, dass Hersh die russischen Invasionspläne weit vor dem tatsächlichen Einmarsch im Februar 2022 als gegeben hinnimmt. US-Geheimdienste hatten in den Wochen und Monaten eben genau davor gewarnt – und ernteten dafür extreme Kritik just von jenen Persönlichkeiten, die nun Hershs Artikel feiern. (faso, 10.2.2023)