Im Gastblog zeigt Sprachwissenschafter Hannes A. Fellner, wie die Analyse von Sprachen dazu genutzt werden kann, nicht mehr gesprochene Sprachen und damit zusammenhängende historische Prozesse zu verstehen.

Arbeit, Gesellschaft und Sprache sind in ihrer Verschränkung das wesentliche Merkmal, das uns Menschen als Gattungswesen gegenüber unseren nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet. Sprache ist die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens und durchdringt als gesellschaftliches Kommunikations-, Reflexions- und Erkenntnismittel alle menschlichen Zusammenhänge.

Die Allgegenwart der Sprache macht es nicht gerade einfach, sich ihr objektiv zu nähern. Das fällt auch uns als Sprachwissenschafterinnen und Sprachwissenschaftern nicht immer leicht. Schwierig ist dadurch auch die Vermittlung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse bei – nicht selten durch mediale Aufmerksamkeitsökonomie aufgebauschten – populären Themen wie geschlechterbewusstem Sprachgebrauch oder Debatten um Sprachpurismus. Da jeder Mensch über Sprache verfügt, hat jede und jeder eine Meinung zu Sprache – in starkem Kontrast zu anderen wissenschaftlichen Bereichen, denn obwohl im menschlichen Körper ununterbrochen unzählige Zellteilungen stattfinden, haben nur die wenigsten Menschen starke Meinungen über die zugrundeliegenden biologischen, chemischen, und physikalischen Vorgänge.

Gegen Sprachpurismus

Zu geschlechterbewusstem Sprachgebrauch hat meine Kollegin der Jungen Akademie, Katharina Wiedlack, bereits einen Blog-Beitrag geschrieben. Ich möchte mich hier mit Sprachpurismus, also dem Verlangen, Sprachen von Einflüssen anderer Sprachen "rein" zu halten, beschäftigen. Vorweg, bei allen oberflächlichen grammatikalischen und lexikalischen Unterschieden zwischen den rund 7.000 Sprachen, die es zurzeit auf der Welt gibt, folgt Sprache letztlich denselben grundlegenden Regeln. Dies kommt auch durch die prinzipielle Übersetzbarkeit jeder Sprache in jede andere zum Ausdruck sowie durch den Umstand, dass auch nicht mehr gesprochene Sprachen für unsere Zeit erschlossen – und zumindest formal verstanden – werden können.

Als historischer Sprachwissenschafter gilt mein Interesse Letzteren sowie den Gesetzmäßigkeiten des Sprachwandels. Eine nicht mehr gesprochene Sprachgruppe, die mir besonders am Herzen liegt und die auch ein wichtiger Teil meines derzeitigen Forschungsprojekts ist, ist das Tocharische. Es besteht aus zwei engverwandten Sprachen, Tocharisch A und B, die zur indogermanischen Sprachfamilie gehören.

Sprachfamilien und Ursprachen

Eine Sprachfamilie umfasst Sprachen, die mit der historisch-vergleichenden Methode auf eine gemeinsame Ursprache (oder Protosprache) zurückgeführt werden können. Man kann dies mit der Art und Weise vergleichen, mit der man Stammbäume in der Biologie erschließt. Betrachtet man die romanischen Sprachen, zum Beispiel Rumänisch (noapte, lapte), Italienisch (notte, latte), Französisch (nuit, lait), Spanisch (noche, leche), Portugiesisch (noite, leite), und wendet die Methoden der historischen Sprachwissenschaft an, kann man die Ursprache, auf die sie alle zurückgehen (für die betreffenden Wörter noctem und lactem, Akkusative von lateinisch nox "Nacht" und lac "Milch"), rekonstruieren.

Im romanischen Fall verfügen wir über eine geschriebene Varietät, die sehr nahe an der rekonstruierbaren Ursprache ist. Das zeigt die Korrektheit unserer Methoden, die auf der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze beruhen, also der Tatsache, dass es systematische lautliche Entsprechungen zwischen verwandten Sprachen gibt (siehe die protoromanische Konsonantenverbindung ct im obigen Beispiel).

Im Osten viel Neues

Doch zurück zur Seidenstraße. Tocharisch wurde im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung an der Seidenstraße im Tarimbecken im heutigen Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang der Volksrepublik China gesprochen. Linguistisch ist Tocharisch unter anderem deshalb interessant, weil es – historisch betrachtet – die am weitesten östlich gesprochene indogermanische Sprachgruppe war, sich aber von anderen alten östlichen indogermanischen Sprachen wie dem indischen Sanskrit oder dem iranischen Avestischen unterscheidet, während es Ähnlichkeiten mit westlichen indogermanischen Sprachen aufweist. Halb scherzhaft belegen wir Tocharologinnen und Tocharologen dies meist mit dem Tocharisch-B-Satz: traiñ oksaiñ kameṃ (ausgesprochen: trainj oksainj kamen), zu Deutsch: "Drei Ochsen kamen" (das ist natürlich eine Ausnahme, ansonsten sind die Ähnlichkeiten auf den ersten Blick eher nicht so leicht zu erkennen).

Sprachvielfalt an der östlichen Seidenstraße.
Foto: Turfanforschung, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: https://turfan.bbaw.de/

Neben der Tatsache, dass eine tocharischsprachige Persönlichkeit einer der wichtigsten Übersetzer buddhistischer Literatur ins Chinesische war (Kumārajīva oder 鸠摩罗什 Jiūmóluóshí, 344 bis 413 nach unserer Zeitrechnung), ist Tocharisch aus historischer Perspektive unter anderem deshalb interessant, weil es zu jenen wenigen Sprachen gehört, die direkt an der östlichen Seidenstraße tradiert wurden. Das ist bemerkenswert, weil die Hauptquellen für die alte Seidenstraße für gewöhnlich von den großen Imperien stammen, die durch sie verbunden waren, also China, Persien, Indien, und Rom.

Das Tocharische ist äußerst fragmentarisch. Wir verfügen über beinahe keine vollständigen Texte. Vieles ging über die Jahrhunderte verloren, aber wir versuchen mit digitalen philologischen und sprachwissenschaftlichen Methoden das Tocharische, so gut es geht, zu erschließen und – auch für die interessierte Öffentlichkeit – hier zugänglich zu machen.

Vielfalt statt Einfalt

Der Großteil des tocharischen Sprachmaterials besteht aus Manuskriptfragmenten, die einen für die Seidenstraße typischen multikulturellen Charakter aufweisen. Tocharisch wurde mit einer indischen Schrift auf chinesisches Papier geschrieben. Die Dokumentfunde stammen aus archäologischen Kontexten, die neben indischen, chinesischen, und lokalen Komponenten auch Verbindungen zu iranischen kulturellen Horizonten und der Gandhara-Region (um die Stadt Peshawar an der heutigen Grenze von Afghanistan und Pakistan) aufweisen, die mit ihrer Verschmelzung von hellenistischen, iranischen und indischen Elementen stilprägend für buddhistische Kunst wurde.

Diese kulturelle Vielfältigkeit ist auch am tocharischen Wortschatz ablesbar. Ein Drittel des Vokabulars sind Lehnwörter. Da die meisten erhaltenen Textfragmente des Tocharischen buddhistischen Inhalts sind, stammt der größte Teil des entlehnten Vokabulars aus indischen Sprachen, allen voran Sanskrit und Gandhari, einer mittelindischen Sprache, aus der die ältesten erhaltenen buddhistischen Schriften stammen (circa aus den ersten Jahrhunderten um die Zeitenwende). Ein Beispiel ist Tocharisch B winai aus Sanskrit vinaya "Regel (der buddhistischen Gemeinschaft)".

Weitere Lehnwörter kommen aus unterschiedlichen iranischen Sprachen. Ein Beispiel ist Tocharisch B pässakw (ä ist ein sogenanntes Schwa wie das letzte e in viele), Tocharisch A psuk von einer iranischen Form pusag "Girlande", die in den mitteliranischen Sprachen Parthisch, Sogdisch und Mittelpersisch vorliegt.

Sehr spannend sind die Lehnbeziehungen, die Tocharisch und Chinesisch hatten. Wie in anderen über lange Zeit bezeugten Sprachen (etwa Althochdeutsch ab dem 7. Jahrhundert; Mittelhochdeutsch ab dem 11. Jahrhundert; Neuhochdeutsch ab dem 14. Jahrhundert) gibt es auch im Chinesischen unterschiedliche Sprachstufen, die sich hinsichtlich Lautinventars, Grammatik und Wortschatzes voneinander unterscheiden. Dies sind Altchinesisch ab dem 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – mit der Spätform Klassisches Chinesisch –, Mittelchinesisch ab den ersten Jahrhunderten um die Zeitenwende und die modernen chinesischen Sprachen ab dem 13. Jahrhundert. Im Tocharischen finden sich, für die Bezeugungszeit im ersten Jahrtausend ganz erwartbar, Lehnwörter aus dem Mittelchinesischen, etwa Tocharisch B tsyāṅk von Mittelchinesisch tsjang "Sauce" (Modernes Standardchinesisch 酱 jiàng).

Langer Marsch der Wörter

Interessant ist nun, dass es einige tocharische Lehnwörter aus dem Chinesischen gibt, die aufgrund ihrer lautlichen Struktur dafür sprechen, dass sie aus dem Altchinesischen stammen, also auf Sprachkontakt zurückgehen, der einige Hundert Jahre vor der Zeit, aus der unsere tocharischen Textfragmente stammen, stattgefunden haben muss. Das Phänomen, dass Sprachen Lehnwörter aus älteren Stufen anderer Sprachen bewahren, ist für uns historische Sprachwissenschafterinnen und Sprachwissenschafter von großem Interesse; ein Beispiel aus unseren Breiten ist Finnisch kuningas "König", das im Grunde die rekonstruierbare urgermanische Form des Wortes bewahrt.

Zwei dieser altchinesischen Wörter sind lˤuʔ "Rohreis" ( ist ein pharyngalisiertes l, ein l, das von einer Engebildung im Rachen begleitet wird, wie die sogenannten emphatischen Laute im Arabischen sie auch haben; ʔ ist ein glottaler Verschlusslaut wie er im Deutschen etwa im Wort Spiegelei vor -ei auftritt) und tmans "Myriade; 10.000". Altchinesisch lˤuʔ und tmans wurden ins Prototocharische entlehnt. Ersteres ist in beiden tocharischen Sprachen als klu, Zweiteres als Tocharisch B tmāne und A tmān erhalten. Die lautliche Struktur der mittelchinesischen Formen dieser Wörter, daw "Rohreis" (Modernes Standardchinesisch 稻 dào) und mjon "Myriade; 10.000" (Modernes Standardchinesisch 万 wàn) zeigt, dass die tocharischen Wörter auf das Altchinesische zurückgehen müssen.

Dass das Wort für Rohreis entlehnt wurde, deutet auf Handelskontakte hin. Die Entlehnung eines Wortes für eine große Menge, zumal im Kontext von Austausch, ist nicht ungewöhnlich, man denke an deutsch Mille für tausend. Für alte Beziehungen zwischen urtocharischen und altchinesischen Sprachgemeinschaften, die dann also vor der alten Seidenstraße zu datieren wären, sprechen auch zwei Lehnwörter aus dem Urtocharischen im Altchinesischen. Dies sind altchinesisch mit "Honig" (Modernes Standardchinesisch 蜜) und krats "rauer Wollstoff" (Modernes Standardchinesisch 罽 "Fischnetz, Teppich, wollener Stoff").

Die Seidenstraße vor der Seidenstraße

Tocharisch B mit "Honig" geht zurück auf urindogermanisch *médʰu (*bedeutet rekonstruiert; dʰ ist ein behauchtes d) , das zum Beispiel auch dem Deutschen Met oder griechisch μέθυ méthu (seinerseits Grundlage von Deutsch Methyl) zugrunde liegt. Tocharisch B kretswe und A kratsu "rauer Wollstoff", deren prototocharischer Vorläufer ins Altchinesische entlehnt wurde, könnte auf eine indogermanische Wurzel *kret "spinnen" zurückgehen, wie sie Hethitisch karzan "Haspel" zugrunde liegt, oder aber auf *gred, das man etwa für das deutsche Wort kratzen annehmen kann.

Seite aus dem alten chinesischen Wörterbuch 说文解字 Shuōwén Jiězì (kommentierte Ausgabe aus der Song-Zeit, 960–1279).
Foto: Gemeinfrei

Im Chinesischen sind beide Wörter, mit und krats, aus der Zeit der Streitenden Reiche (475 bis 221 vor unsere Zeitrechnung) belegt. Das passt gut mit dem archäologischen Befund zusammen und der Tatsache, dass Imkerei und Wollproduktion mit den Grenzregionen zur zentralasiatischen Steppe assoziiert sind, wo sie von mobilen Kulturen betrieben wurden. Zu diesen gehörten ursprünglich auch indogermanischsprachige Gemeinschaften, die sich – wie in historischer Zeit etwa die türkischen und mongolischen Sprachen – über den eurasischen Steppengürtel verbreitet haben. Aus den Regionen im Westen der damaligen chinesischen Gebiete, insbesondere dem heutigen Xinjiang, stammt alte Evidenz für Wollwirtschaft. Die älteste Hose der Welt ist wohl nicht zufällig eine in Xinjiang gefundene Wollhose, die beim Pferdereiten getragen wurde. Philologisch passt dann auch sehr gut, dass altchinesisch krats im 说文解字 Shuōwén Jiězì, einem alten chinesischen Wörterbuch aus dem 2. Jahrhundert unserer Zeit, als "haariger Stoff von den westlichen Barbaren" glossiert wird.

Normalität des Sprachkontakts

Damals wird es sicher auch Leute auf beiden Seiten des Kontaktes gegeben haben, die ihre Sprachen vom Einfluss der jeweiligen anderen reinhalten wollten, ohne Erfolg, wie wir gesehen haben. Eine wichtige Einsicht der historischen Sprachwissenschaft ist, dass Sprache sich ständig ändert und Sprachen auch immer in Kontakt miteinander sind. Das ist ein natürlicher Prozess, seit es den Menschen gibt.

Sprachpurismus hat meist keinen Effekt. Viele Wörter, die heute in aller Munde sind, können morgen weg sein. Wörter, die uns heute fremd vorkommen, sind für die nächsten Generationen "normale" Wörter. So lief das – um es tacheles (jiddisch, letztlich hebräisch) zu sagen –, zum Beispiel mit Alkohol (arabisch), Boss (niederländisch), Chili (nahuatl), Dalli! (polnisch), Emoji (japanisch), Fabrik (französisch), Gletscher (rätoromanisch), Hawara (jiddisch aus dem Hebräischen), Iglu (inuktitut), Jause (slowenisch), Kukuruz (serbokroatisch), Loipe (norwegisch), Magie (lateinisch aus dem Griechischen, dort aus dem Altpersischen), Netto (italienisch), Ombuds[stelle] (schwedisch), Palatschinken (ungarisch aus dem Rumänischen), quitt (französisch), Razzia (französisch aus dem Arabischen), Steppe (russisch), Tee (chinesisch), Urne (latein), Vanille (spanisch), Wuchtel (tschechisch), x(-fach) (italienisch aus dem Arabischen), Yoga (sanskrit), Zucker (italienisch aus dem Arabischen, dort aus dem Sanskrit).

Die historische Sprachwissenschaft erlaubt es, Sprachkontakt bis in vorhistorische Zeiten nachzuverfolgen und ermöglicht es damit, Aussagen über die Beziehungen von unterschiedlichen Kulturen zu machen. Das ist nicht nur historisch spannend, sondern hat auch Aktualität: Dadurch lassen sich nämlich Vorstellungen von Sprachreinheit widerlegen und Vorurteile gegen Kontakte zwischen Sprachgemeinschaften abbauen. (Hannes A. Fellner, 15.2.2023)