Die Aussicht, unter den Trümmern noch Lebenszeichen zu finden, schwindet. Eine Angehörige, ein Überlebender und ein Retter erzählen dem STANDARD von traumatischen Tagen, der quälenden Ungewissheit, die zur traurigen Gewissheit wird – und vom Glück und Schuldgefühl, am Leben zu sein.

Der Rückkehrer: Die Frage, warum er überlebt hat und andere nicht, plagt Augustin Debsi

Eigentlich wollte Augustin Debsi in Antakya seine türkischen Wurzeln erforschen. Doch statt die Heimat seines Großvaters zu ergründen, wurde der 24-jährige Franzose Zeuge ihrer Zerstörung – wie er dem STANDARD nach der Erdbebennacht per Telefon aus Ankara gefasst, aber unter Tränen berichtet: "Mein Bett rüttelte so heftig, dass ich schlagartig wach wurde. Ohne nachzudenken, sprang ich auf und rannte zur Tür – doch die ließ sich nicht öffnen. Dann erst kam die Einsicht: ein Erdbeben. Und: Ich bin eingesperrt. Plötzlich hörte ich einen lauten Knall, wie ein Donnergrollen direkt neben meinem Ohr. Mir entfuhr ein lauter Schrei, der noch heute in meinen Ohren nachhallt – bevor mir eine Staubwolke den Atem nahm. Ich dachte, das war es jetzt. Ich ersticke.

Als sich der Staub lichtete, sah ich, dass im 300 Jahre alten Gemäuer des Fremdenzimmers riesige Löcher klafften. Ich blickte hinaus in die finstere Nacht, sah rundum eingestürzte Häuser. Nebenan ertönten die Hilferufe einer eingesperrten Familie. Ich trat die Türen ein, dann rüttelte die Erde erneut. Gemeinsam rannten wir in den Hof und suchten unter einem Tisch Zuflucht. Dort muss ich stundenlang gesessen und ins Leere gestarrt haben. Mir ging so viel durch den Kopf: Komme ich hier lebend raus? Soll ich mein Zeug packen? Wie kann ich meine Familie kontaktieren?

Es gab weder Strom noch Internet oder Mobilfunk. Trümmer versperrten den Weg aus der Altstadt. Um neun Uhr läuteten erstmals Sirenen, Rettungskräfte habe ich den ganzen Tag keine gesehen. Nur zwei Männer, die vor einem weiteren Beben warnten. Im Pyjama bahnte ich mir einen Weg über die Trümmer und irrte im Regen auf der Suche nach Zuflucht durch die Überreste der Stadt. Überall Hilferufe und blutüberströmte Menschen. Einige lagen am Boden – ob sie lebten, weiß ich nicht. Ein Mann hielt einen Hotelbus an. Der Fahrer verweigerte Geld, aber er nahm uns mit nach Ankara – in Todesangst vor dem zweiten Beben.

Dem sind wir rechtzeitig entkommen. Vor den Erinnerungen gibt es aber kein Entrinnen: Sobald ich die Augen schließe, bebt die Erde. Auch die Frage, warum ich überlebt habe, aber nicht meine Tante und die zwei vierjährigen Cousinen, wird mich für immer begleiten. Von meinem Onkel fehlt jede Spur. Auch das Haus meines Opas steht nicht mehr."

Debsi im türkischen Antakya – bevor die Erde bebte.
Foto: privat

Angehörige in Wien: Sosin D. hat keine Hoffnung mehr für die Vermissten in ihrem Dorf

Die Kurdin Sosin D. hat eine Woche voller Höhen und Tiefen hinter sich. Trotz der Arbeit in ihrem Wiener Kosmetiksalon und akuten Schlafmangels hat sie seit Montagfrüh per Smartphone jedes Update verfolgt, das ihre Heimat betrifft. Dabei handelt es sich um ein Gebiet an der Kreuzung zwischen dem 37. Breitengrad und dem 36. Längengrad – das Epizentrum des Bebens in der Türkei unweit von Gaziantep. Bis heute sind in ihrem hauptsächlich von Kurden bewohnten Dorf und im Umland keine Rettungskräfte eingetroffen, beklagt sie im STANDARD-Gespräch:

"Ich wohne seit 35 Jahren in Wien, aber ich fühle mich mit der Heimat eng verbunden. Dass wir dort über Stunden niemanden erreichen konnten, beunruhigte mich sehr – doch dass es Tote geben würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Erst gab es Entwarnung: Wir bekamen Lebenszeichen von Angehörigen, die ihren Whatsapp-Status auf ‚Habe überlebt‘ geändert hatten, weil sie keine Nachrichten senden konnten. Aber noch am Abend folgte der erste Schock: Ein 27-jähriger Cousin hatte die Nacht nicht überlebt.

Es fiel mir schwer, das zu begreifen und zu betrauern – schließlich fieberten wir zeitgleich um das Überleben weiterer vermisster Verwandter. Mit jedem Tag wich die Ungewissheit über ihren Verbleib der Gewissheit, dass sie nicht mehr lebend gerettet werden.

Dazu gehören auch meine verschüttete Cousine und ihre zwei Kinder, deren Körper die Dorfbewohner mit bloßen Händen freigelegt hatten und doch nicht befreien konnten: Um die schweren Betonblöcke aufzuheben, hätte man Kräne benötigt – doch die kamen nicht, wohl auch weil es eine Kurdenregion ist. Der Staat war auf eine Katastrophe dieses Ausmaßes nicht vorbereitet, es gibt nicht genug Hilfe für alle. Daher stellt man unser Überleben hintan. Mein Bruder ist gleich am Dienstag hingeflogen, um immerhin Zelte, Benzin und Generatoren zu bringen – sonst hätten die Leute im Dorf nichts

.Dass meine Onkel und Tanten bei Minusgraden ohne Dach über dem Kopf ausharren müssen, treibt uns hier in Wien in die Verzweiflung. Und auch, dass das Dorf nicht mehr existiert. Es war für mich ein Zufluchtsort, wenn hier etwa die rassistischen Übergriffe zu viel wurden. Erst heute wurde mir im Bus erneut zugeraunt, ich solle verschwinden."

Trauer – auch bei Angehörigen im Ausland.
Foto: AP Photo/Khalil Hamra

Helfer aus Österreich: Major Bernhard Lindenberg im herausfordernden Einsatz

Der Niederösterreicher Bernhard Lindenberg war schon mehrmals mit dem Bundesheer bei Auslandseinsätzen – doch solch ein verheerendes Ausmaß wie in der Türkei hat der Major und Kommandant der Austrian Forces Disaster Relief Unit noch nicht gesehen. DER STANDARD hat Lindenberg am Telefon in der türkischen Stadt Antakya erreicht:

"Wir sind diese Woche in der Nacht angekommen. Der Strom hat nicht funktioniert. Nur die Scheinwerfer der Autos und der Einsatzkräfte haben die Szenerie beleuchtet. Zwischen den Trümmern haben Überlebende Lagerfeuer gemacht, um sich zu wärmen. Das war eine drückende Stimmung. Ganze Häuserblöcke sind eingestürzt, Ortschaften einfach zerstört. Einsätze sind immer herausfordernd. Doch das Schadensausmaß, die Größe hier; so etwas habe ich noch nicht gesehen.

Als wir Anfang der Woche angekommen sind, waren erst wenige Hilfsteams vor Ort, und wir haben einen sehr großen Suchsektor zugewiesen bekommen – eigentlich zu groß. Aber unsere Teams haben sofort mit der Arbeit losgelegt. Da gab es auch keine Höflichkeiten mehr untereinander. Wir hörten schon bald Stimmen in den Trümmern. Nur dort, wo wir uns den größten Erfolg versprachen, begannen wir zu arbeiten. Bald konnten wir einen Mann retten. Wir mussten ihm einen Arm amputieren, um ihn herauszubekommen. Zwar sind unsere Such- und Bergeteams dafür ausgebildet, aber das ist dann doch ausgesprochen schwierig. Auch persönlich. Kurz darauf wurden wieder zwei Personen befreit. Zuerst dachten unsere Retter noch, dass sie nur eine Person entdeckt hätten, doch es waren dann doch zwei. Da freut man sich sehr.

Es sind auch ständig die Angehörigen und Freunde vor Ort. Die lassen die Eingesperrten nicht allein. Das ist auf der einen Seite ein großer Druck – aber auf der anderen Seite irre motivierend. Die psychische Gesundheit ist die größte Herausforderung für uns. Wir haben einen Psychologen mit, der mit den Teams beim Schichtwechsel direkt spricht. Bei der Rückkehr in Österreich gibt es dann noch zusätzliche Betreuung.

Unser Einsatz ist erst einmal bis zum 16. Februar anberaumt. Wir arbeiten aber, solange es noch Hoffnung gibt. Denn auch nach Ablauf der ersten 100 Stunden gibt es die. Wunder passieren immer wieder."

Einsatzleiter Lindenberg vor dem Abflug.
Foto: Klaus Unterbuchberger / Bundesheer

(Flora Mory, Bianca Blei, 11.2.2023)