Der Vereinsgründer Carsten Stahl bei einer Kundgebung gegen Mobbing in Berlin 2020. Derzeit weilt er in Wien, um mit Roberto d'Atri Stimmung zu machen.

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Der Prozess gegen Florian Teichtmeister ist geplatzt. Vorerst. Dass die geplante Verhandlung wegen einer Erkrankung des Angeklagten abgesagt werden musste, hielt eine Gruppe von Menschen mit Transparenten allerdings nicht davon ab, vergangenen Mittwoch vor dem Wiener Landesgericht für Strafsachen aufzukreuzen. "Null Toleranz für Kinderschänder!" stand auf einem der Banner. Und auf mehreren Flaggen, die auf der kleinen Kundgebung geschwenkt wurden, war der Name eines Vereins zu lesen: "Bündnis Kinderschutz".

Verein spielt Aufdecker in Lech

Das Bündnis ist aktuell vor allem wegen eines anderen Falles in aller Munde: Am 3. Februar machte der Verein einen mutmaßlichen Missbrauch im Vorarlberger Skiort Lech öffentlich. Ein Betreuer soll dort einen dreijährigen Buben sexuell missbraucht haben. Häppchenweise fütterte der Verein die Medien mit Details – auch mit solchen, die Behörden aus Gründen des Opferschutzes nicht herausgeben würden. Nicht nur hätte der private Kindergarten, was das Sicherheitskonzept und den Diensteinsatz des Betreuers angeht, gelogen. Auch habe man die restlichen Eltern im Unwissen gelassen, weil sich Lech einen Skandal just in der Skisaison ersparen wollte. Vereinsobmann Roberto d'Atri erzählte, dass er einen Privatdetektiv angeheuert hätte, der all das belegen könne.

Noch schwerere Geschütze wurden bei einer Pressekonferenz aufgefahren, auf der der Vater des Dreijährigen, sein Anwalt Nikolaus Rast und d’Atri zum Frontalangriff auf Polizei und ermittelnde Behörden bliesen: Diese hätten zu schlampig ermittelt und den Betreuer viel zu spät einvernommen. Der Vater zeigte die Polizei an.

Brachiale Männlichkeit im Namen des Kinderschutzes

In seiner Selbstwahrnehmung "ermittelt" der Verein effizienter und besser als die Behörden. Seine Mitglieder geben sich so selbstbewusst wie angriffslustig. Das Credo, das mitschwingt: Wir sind diejenigen, die Kinderschutz wirklich in die Hand nehmen. Wer steckt hinter dem Verein, der sich auf der Straße und im Netz mit recht brachialer Männlichkeit inszeniert – und sich bestätigt fühlt, wenn offizielle Kinderschutzorganisationen auf Distanz zu ihm gehen?

Eigentlich ist das Bündnis Kinderschutz in Deutschland beheimatet. D'Atri, ein italienischer Gastronom mit Lokal in Wien, gründete quasi das österreichische Franchise dazu. Den deutschen Verein rief vor rund zehn Jahren ein in der Öffentlichkeit nicht ganz Unbekannter ins Leben: Carsten Stahl, Kampfsportler, ehemaliger Personenschützer und heute "Gewaltpräventionstrainer" – für ein paar Jahre auch mit eigener Reality-Show auf RTL 2. Darin besuchte Stahl Jugendliche an Schulen und sprach mit ihnen über Mobbing, Gewalt und Kriminalität – der heute 50-jährige Berliner war in jungen Jahren selbst Anführer einer kriminellen Gang.

Auch Mobbingopfer war Stahl in seiner Kindheit selbst, wie er in seinen öffentlichen Auftritten gerne erzählt – bis er durch den Sport lernte, sich zu verteidigen und "zurückzuschlagen". Heute wolle er Kindern und Jugendlichen helfen, denen es ähnlich ergeht. In seinen Auftritten vor Schulklassen gibt sich Stahl als etwas pathetischer Motivationsguru mit rauer Street-Credibility.

Fotos in Kampfposen

Während er Schulkindern mit durchaus altersgerechter Empathie und Humor begegnet, ist er bei anderen Adressaten weniger verständnisvoll: Politikerinnen und Politiker klagt er in Social-Media-Videos gerne persönlich an – mitunter auch schreiend statt sprechend. Kanzler und Hobbyboxer Karl Nehammer (ÖVP) forderte er jüngst in einem Video der "Kronen Zeitung" zum Kampf im Ring auf. "Und wenn ich gewinne", sagt Stahl darin Richtung Kanzler, "setzen Sie alle Gesetze zum Kinderschutz um, die wir in Deutschland auch geschafft haben."

Für sein Bündnis Kinderschutz hat Stahl sich Testimonials wie den früheren deutschen Schwergewichtsboxer Axel Schulz oder den Comedian Mario Barth geholt. D'Atri fügte diesen für den Österreich-Ableger vor allem weitere Kampfsportler wie Thaiboxer Fadi Merza und Boxer Marcos Nader hinzu, die sich für die Website des Vereins in Kampfposen ablichten ließen.

Roberto d'Atri und Carsten Stahl haben sich prominente Testimonials für ihren Verein geholt.
Foto: Screenshot Bündnis Kinderschutz

Opferschutz nicht im Blick

Dass die elf Männer – Frauen finden sich auf der Website keine – leidenschaftlich für harte Strafen für Täter eintreten, ist für Österreichs Kinderschutzeinrichtungen verständlich. Die einzige Lösung sei das aber nicht. Letztlich müsse der Schutz der Kinder Vorrang haben, reagierten die Österreichischen Kinderschutzeinrichtungen geschlossen auf das Treiben des Vereins. Wenn von sexueller Gewalt betroffene Kinder mehrfach befragt würden, deren Eltern an die Öffentlichkeit treten, dann könnte all das den Opfern schaden. Warum diese scharfe Kritik?

Wenn die Identität des Kindes preisgegeben wird, sagt die Psychologin und Leiterin der Kinderschutzorganisation Die Möwe, Hedwig Wölfl, im STANDARD-Gespräch, werde eine Dynamik in Gang gesetzt, in der das Kind keinen Schutz mehr hat. "Das mediale Outing stellt Betroffene bloß und macht alle zu Mitwissern." Unüberlegte, wenn auch lieb gemeinte Fragen von Kindergartenfreunden oder deren Eltern wie "Was ist da passiert?" könnten das missbrauchte Kind stigmatisieren oder sogar retraumatisieren – und ein Leben lang begleiten. Das sei einer der Gründe, warum Kinderschutzorganisationen nie aktiv Fälle an die Öffentlichkeit tragen, sagt Wölfl.

Auf der Homepage des Vereins wird um Spenden gebeten – und ein "Aufklärungsbuch" für Kinder zum kostenlosen Download angeboten. Das Buch ist in der Fachwelt umstritten.
Foto: Screenshot Homepage Bündnis

Richter: Verfahren "kaputtgemacht"

Welche Folgen das proaktive Handeln des Vereins haben kann, zeigt auch ein Fall in Tirol: Dort wurde im Dezember ein 76-Jähriger vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs Unmündiger freigesprochen. Ihm wurde vorgeworfen, im Jahr 2009 als Feriencamp-Leiter einen neunjährigen Buben missbraucht zu haben. Wer auch dort mitmischte: das Duo Rast und D'Atri. Und das offenbar mit so viel Elan, dass das Verfahren aufgrund der Vereins-Interventionen "kaputtgemacht worden sei", wie der Richter zur APA sagte. Dieser konnte bei der Urteilsfindung nicht ausschließen, dass die Erinnerungen des mutmaßlichen Opfers "konstruiert" worden seien. Wie der STANDARD erfuhr, stand das mutmaßliche Opfer, ein mittlerweile erwachsener Mann, schon zuvor im Kontakt zum Verein.

Ähnlich verhält es sich im Lecher Fall: Auch hier war der Vater des Dreijährigen schon länger aktiv beim Verein. Deswegen habe er diesen auch "in der Sache engagiert", sagt d'Atri zum STANDARD. Auch sei der mutmaßliche Übergriff in Lech wegen ihres Aufklärungsbuches für Kinder, das dem Dreijährigen gezeigt wurde, überhaupt erst aufgekommen, behauptet d'Atri. "Aus professioneller Kinderschutzsicht" sei dieses vom Verein herausgegebene Buch "Bubby Bär klärt auf" jedoch keinesfalls zur gewaltpräventiven Arbeit geeignet, heißt es dazu von Wölfl.

Anonymität der Opfer zweitrangig

Die konsequente Vereinsstrategie, medial mit Fällen vorzupreschen, ist in d'Atris Augen das einzige Mittel, die Politik zum Handeln zu zwingen, sagt er. Ob man die Retraumatisierung der Kinder dafür bewusst in Kauf nehme? Hier verweist d'Atri auf die Entscheidung der Eltern in den Fällen, die sie vertreten. "Ein Missbrauch begleitet ein Kind ein Leben lang. Wenn sich Eltern dann entscheiden, die Anonymität aufzugeben, um andere Kinder zu schützen, dann macht uns diese Entscheidung stolz", sagt er. Dass sich Fachleute vom Verein deswegen distanzieren, kommentiert der Gastronom mit einem "Gott sei Dank": Man habe da "einfach einen anderen Zugang". (Elisa Tomaselli, Martin Tschiderer, 14.2.2023)