Das österreichische Bundesheer hat am Samstag seinen Rettungs- und Hilfseinsatz im Erdbebengebiet in der türkischen Provinz Hatay einstellen müssen. Vorerst, wie Hauptmann Marcel Taschwer im STANDARD-Interview erklärt. Grund für die Zwangspause für die Helferinnen und Helfer war die zunehmend gefährliche Sicherheitslage vor Ort. Berichtet wurde von aggressiven Gruppierungen und sogar Schüssen, die gefallen sind.

Am Samstagnachmittag dann die Meldung, dass die türkische Armee den Schutz des AFDRU-Kontingents (Austrian Forces Disaster Relief Unit) übernommen hat – und die Suche im Erdbebengebiet wieder aufgenommen wird. Die Suchhunde des österreichischen Heeres sind bereits wieder im Einsatz, sagt Hauptmann Taschwer. In Kürze könnten die Berge- und Retteteams des Bundesheers ihre Arbeit wieder aufnehmen. Am Nachmittag sollten die Grabungen fortgesetzt werden.

Hauptmann Marcel Taschwer vom österreichischen Bundesheer.
Foto: Bundesheer

STANDARD: Warum ist der Hilfseinsatz des österreichischen Bundesheers in der vom Erdbeben schwer getroffenen türkischen Provinz Hatay eingestellt worden? Was ist vor Ort passiert, dass das Bundesheer gesagt hat oder sagen musste, die Sicherheitslage ist so, dass wir nicht mehr weitermachen können?

Taschwer: In den Morgenstunden hat sich die Sicherheitslage dahingehend geändert, dass sich Gruppierungen in gewissen Teilen der Türkei gegenseitig aggressiv gegenübergestanden sind. Es ist aber nie zu einer Aggression oder zu Übergriffen auf unsere österreichischen Soldatinnen und Soldaten gekommen. Die türkischen Behörden haben dann wieder die Führung über die Schadstellen beziehungsweise über die weitere Koordinierung übernommen. Unsere Soldatinnen und Soldaten so wie auch andere Hilfsorganisationen halten sich momentan in ihren Basiscamps in der Region für weitere Aufträge bereit.

Die Zeltstadt, in der die Hilfskräfte des österreichischen Bundesheers und das logistische Material in der Provinz Hatay in der Türkei untergebracht sind.
Foto: Bundesheer

STANDARD: Welche "Gruppierungen" sind das? Kann man die benennen? Wer geht da auf wen los mitten im Erdbebenchaos? Sind das vielleicht Streitigkeiten, dass jemand sagt, grabt hier zuerst bei unserem Haus und nicht beim Nachbarn?

Taschwer: Das ist für uns sehr schwer, die Gruppen und den Anlass zu benennen, aber es soll da anscheinend aus der Bevölkerung mehr oder weniger zu Aufständen gekommen sein. Wir verlassen uns da natürlich auf die Koordinierung durch die nationalen Behörden und stehen weiterhin für weitere Aufträge bereit.

STANDARD: Es soll vor Ort auch Schüsse gegeben haben. Was wissen Sie darüber?

Taschwer: Anscheinend sollen Schüsse oder Warnschüsse gefallen sein, auch da kann ich nur Oberstleutnant Kugelweis wiedergeben, der gesagt hat, dass Schüsse zu hören waren, aber zu keiner Zeit eine Gefährdung für unsere Soldatinnen und Soldaten gegeben war.

STANDARD: Vor kurzem, also etwa gegen 14.30 Uhr, kam die Meldung, dass die türkische Armee den Schutz des österreichischen AFDRU-Kontingents übernommen hat und die Bundesheer-Teams die Suche wieder aufgenommen haben. Wie ist die Lage also jetzt konkret?

Das Foto stammt von Samstagnachmittag und zeigt einen der ersten Suchhunde, die nach der erzwungenen Suchpause wieder mit der Arbeit anfangen konnten.
Foto: Bundesheer

Taschwer: Ja, das kann ich bestätigen. Die Sicherheitslage wird ja permanent evaluiert gemeinsam mit den türkischen Behörden. Die türkische Armee hat jetzt den Schutz unserer Hilfsteams übernommen und am frühen Nachmittag werden die Grabungen vor Ort fortgesetzt. Zwei Hundeführer haben mit ihren Hunden unter dem Schutz der türkischen Armee den Suchvorgang wieder aufgenommen. Das restliche Kontingent hält sich im Basiscamp bereit und ist ebenfalls jederzeit für weitere Einsätze verfügbar.

STANDARD: Wie viele Soldatinnen und Soldaten des österreichischen Bundesheers sind derzeit in der Türkei im Hilfseinsatz?

Taschwer: Wir haben in Summe 82 Personen vor Ort, davon sind aber fünf Personen von der Bergrettung sowie sechs Hundeführer, die teilweise über die Feuerwehr oder die Rettungshundestaffel gestellt wurden, und die restlichen Personen sind Soldaten bzw. drei Soldatinnen.

Ein Suchhund mit dem Hundeführer in einer Gebäuderuine.
Foto: Bundesheer

STANDARD: Wurde die Pause-Taste für den Einsatz eigentlich gedrückt, weil die türkischen Behörden es angeordnet oder empfohlen haben – oder hat das österreichische Bundesheer gesagt: Nach den Einschätzungen der Sicherheitslage durch die türkischen Behörden ist es sicherer, wenn wir pausieren?

Taschwer: Das passiert immer in enger Abstimmung und war auch hier eine Konsensfindung mit dem Kommandanten des österreichischen Katastrophenhilfe-Kontingents vor Ort, Major Bernhard Lindenberg, und den nationalen Kräften, dass man jetzt einmal gesagt hat, wir pausieren kurz, weil die Sicherheitslage momentan doch einen höheren Stellenwert hat als eine weitere Suche. Die 100-Stunden-Zeitspanne, die nach einem Erdbeben als entscheidende Phase gilt, ist bereits gestern um fünf Uhr früh abgelaufen, aber es wird dann so lange gesucht, solange noch Hoffnung besteht. Dennoch steht der Sicherheitsaspekt der eigenen Soldatinnen und Soldaten an oberster Stelle.

Ein Mitglied der österreichischen Hilfskräfte des Bundesheers.
Foto: Bundesheer

STANDARD: Haben auch andere Länder ihre Hilfseinsätze wegen der Sicherheitslage jetzt einmal unterbrochen?

Taschwer: Wir wissen auch von anderen Hilfsorganisationen, die sich momentan in ihren Basiscamps bereithalten. In den grünen Zelten (siehe Foto oben) befindet sich das österreichische Bundesheer, und daneben sind Kollegen aus der Schweiz, die ihren Einsatz ebenfalls gerade pausieren.

STANDARD: Tut die türkische Regierung etwas oder genug, um diese Lage vor Ort zu beruhigen und die Hilfskräfte zu schützen?

Taschwer: Für das Bundesheer kann ich sagen, dass bei uns die Zusammenarbeit in der Region Hatay, wo unsere Soldatinnen und Soldaten eingesetzt sind, immer sehr gut funktioniert hat.

Inmitten der Zerstörung durch das Erdbeben Habseligkeiten der Menschen, die dort einmal gewohnt und gelebt haben.
Foto: Bundesheer

STANDARD: Wie viele Menschen haben die österreichischen Hilfskräfte bis jetzt gerettet und aus den Trümmern geborgen?

Taschwer: Seit Dienstag haben wir neun Personen gerettet, zuletzt, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, eine fünfköpfige Familie.

STANDARD: Bei einem geborgenen Mann musste sogar der Arm amputiert werden, um ihn aus dem Schutt herauszubekommen. Gab es noch mehr ähnlich dramatische Situationen?

Taschwer: Dieser Mann wurde von einer Bodenplatte eingeklemmt bzw. eingequetscht und konnte nur durch die Amputation aus den Trümmern befreit werden.

STANDARD: Wie muss man sich das vorstellen? Ist da im Bundesheerteam auch ein Arzt oder eine Ärztin, die so etwas unter diesen Extrembedingungen machen kann? Oder wer hat die Amputation durchgeführt?

Das Team des österreichischen Bundesheers vor dem Abflug ins Katastrophengebiet.
Foto: Bundesheer

Taschwer: Wir haben drei Rette- und Bergeteams im Einsatz, alle bestehen aus 16 Personen, zwei arbeiten rund um die Uhr, eines pausiert und ruht sich in Zelten vor Ort aus. In jedem dieser Teams ist ein Notarzt, wir haben einen Notfallsanitäter mit dabei, und in diesem konkreten Fall war der Notarzt auch der leitende Chirurg des Heeresspitals, der seit 1994 beim Bundesheer ist. Darüber hinaus haben wir in jedem Team noch zwei Hundeführer mit den jeweiligen Hunden dabei und eben die Personen aus dem Rette- und Bergeelement per se, die mit unterschiedlichstem Gerät hydraulisch, mit Scheren etc. Rettungen vornehmen können.

STANDARD: Wie sieht der Einsatz der Hunde aus? Lawinensuchhunde müssen ja nach einer bestimmten Zeit eine Pause machen, weil dieser Einsatz für sie ja extrem anstrengend ist.

Noch eine Szene – hier mit den tierischen Helfern, die ins Erdbebengebiet geschickt wurden.
Foto: Bundesheer

Taschwer: Es sind ebenfalls Spürhunde und die brauchen natürlich nach einer gewissen Einsatzzeit auch eine Pause, das ist auch abhängig von den äußeren Witterungsbedingungen, weil wir reden da von Temperaturen um den Gefrierpunkt, in der Nacht auch darunter. Auch wenn das für den Hund teilweise mit dem Spieltrieb verbunden ist, braucht er natürlich auch seine Pausen und Regenerationsphasen. (Lisa Nimmervoll, 11.2.2023)