Tierkot, dem Säckchen entnommen und einer Ballettkritikerin ins Gesicht geschmiert, ersetzt eben noch lange kein Argument.

Grafik: Fatih Aydogdu

Die Tat wurde mit Vorsatz verübt und von langer, vor Wut zitternder Hand geplant. In der Pause der Ballettpremiere von Glaube – Liebe – Hoffnung im Opernhaus Hannover wurde Wiebke Hüster, Tanzkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, am vergangenen Samstag Opfer einer Insultierung. Dabei attackierte Marco Goecke (50), Direktor des niedersächsischen Staatsballetts, die Rezensentin zunächst verbal. Er drohte Hüster mit "Hausverbot" und warf der ihm persönlich vordem Unbekannten vor, für eine Reihe von Abo-Kündigungen verantwortlich zu sein.

Dabei ließ es Goecke – vor einiger Zeit Opfer eines Hüster-Verrisses in Den Haag – nicht bewenden. Behände zückte der Tanzkünstler ein Papiersäckchen mit Tierkot. Den Inhalt schüttete der Zornbebende der verblüfften Kritikerin ins Gesicht. Woraufhin er in der dichtgedrängten Menge untertauchte, um ungehindert seiner Wege zu gehen. Ort der schauerlichen Handlung: das Hannoveraner Opernfoyer.

"Ein bisschen erschrocken über mich selber"

Gegen Goecke wurde umgehend Strafanzeige erstattet, polizeiliche Ermittlungen laufen. Die FAZ spricht von einem "demütigenden Akt", den sie – über den Tatbestand der Körperverletzung hinaus – als "einen Einschüchterungsversuch gegenüber unserer freien, kritischen Kunstbetrachtung" ansieht. Die zuständige Intendantin Laura Berman zeigte sich auf Anfrage "schockiert". Sie gelobte, "arbeitsrechtliche Konsequenzen gegenüber Ballettdirektor Marco Goecke prüfen" zu wollen. Nach einer weiteren Schrecksekunde wurde Goecke heute Montag suspendiert, überdies wurde über ihn bis auf Weiteres ein Hausverbot verhängt.

Goecke äußerte sich in einem Interview mit dem NDR Niedersachsen zu seinem Angriff: "Ich denke, dass die Wahl der Mittel nicht super war, absolut", sagte der 50-Jährige. Es sei gesellschaftlich "bestimmt nicht anerkannt oder respektiert", wenn man zu solchen Mitteln greife. "Und ich bin auch ein Mensch, der so was noch nie gemacht hat, insofern bin ich natürlich auch ein bisschen erschrocken über mich selber", sagte Goecke. Aber auch seine Person, sein Werk, sein Geschäft sei über Jahre beschmutzt worden, rechtfertigte er sich.

Kot am Ärmel der Kunst

Zwischen Vertretern der darstellenden Künste und denjenigen der nachschöpferischen Betrachtung herrscht seit längerem Verstörung. Hamburgs Schauspielintendantin Karin Beier hielt es 2021 für angebracht, Kritiker als "Scheiße am Ärmel der Kunst" zu verunglimpfen. Im September 2022 bezeichnete Schauspieler Benny Claessens eine ihm missliebige Rezensentin als psychisch gestört: "Your time is over, darling!"

Als Mutter aller einschlägigen Übergriffe gegenüber Kritikern gilt zweifellos die berühmte Spiralblockaffäre von 2006. Den Anlass bildete ein Ionesco-Abend am Frankfurter Schauspiel. Schauspieler Thomas Lawinky, ein wahrer Hüne, entriss FAZ-Großkritiker Gerhard Stadelmaier – auch dieser ein gestandenes Mannsbild – dessen Mitschrift und bedachte den darob Aufbegehrenden mit Schimpftiraden. Die Mitteilung dieser vom Betroffenen als "ungeheuerlich" empfundenen Episode fand den Weg auf die Seite eins des Weltblattes. Lawinky kam mit seiner Kündigung allfälligen Konsequenzen zuvor. Er fand auf das freundliche Anerbieten Claus Peymanns hin Zuflucht im Berliner Ensemble. Aufseiten der Zeitung glaubte man, einen Anschlag auf die Meinungsfreiheit stellvertretend für alle erlitten zu haben.

Es scheint, als brächte das alte Misstrauen, das die Künste seit jeher gegenüber der Kritik hegen, das Fass immer öfter zum Überlaufen. "Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent." So dichtete Goethe – der es sonst besser wusste – bereits in verhältnismäßig jungen Jahren. Kunst und Kritik gebärden sich wie Kontrahenten. Derweil gerät in Vergessenheit, dass die beiden Holz vom selben Stamm sind.

Elementare Schöpferkraft

Wer im Umgang mit Kunstwerken seine Urteilskraft unter Beweis stellt, gehört seit Platons Tagen zu den Kleingeistern, zu den bloß sekundär Begabten. Während sich im Künstler – er hatte früher unbedingt männlich zu sein – elementare Schöpferkraft Bahn bricht, obwalten im "Beckmesser" Neid und Ressentiment. Kritiker stehen im dringenden Verdacht, Eunuchen zu sein. Der "Genius" war, genealogisch gesprochen, der "Zeugende, Samen Verspritzende". Der Kritiker hingegen musste mit der Rolle des "zersetzenden", nicht einmal nachschöpferischen Geistes vorliebnehmen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass das Zerrbild des Kritikers in der Vergangenheit wiederholt antisemitische Züge aufwies.

Damit blieb dem Kritiker, gleich welchen Geschlechts, häufig nur der Platz des armen Vetters an der reich gedeckten Tafel der Künste. Das Klima wechselseitigen Verdachts zeugt vom augenblicklichen Stand der Dinge. Eine lächerliche, durchaus von Aggressionsbereitschaft kündende Tat wie der Hannoveraner Kotangriff belegt das allseits schlechte Gewissen. Die Bühnen, an die gehätschelte Vorliebe für die eigenen Tics und Schrullen gewöhnt, sehen sich massiv mit Publikumsschwund konfrontiert. Die Kritiker dagegen müssen wahrnehmen, wie ihr Renommee, ihre überlieferte Autorität, wie Butter in der Pfanne schmilzt. Die sozialmedial Vermittelten machen sich ihre Shitstorms lieber selbst.

Beider Hilflosigkeit, verquickt zu ein und demselben Jammer: Mit der chemischen Reinigung von Ärmeln und dem Abwischen von Gesichtern wird es nicht getan sein. (Ronald Pohl, red, 13.2.2023)