Mindestens 100.000 Menschen demonstrierten in Jerusalem. Die Regierung hält aber weiter an ihrer Justizreform fest.

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Für den 16-jährigen Yigal aus Jerusalem und seine Freunde fand der Unterricht am Montag im Freien und bei ohrenbetäubendem Lärm statt. "Mein Staatsbürgerschaftslehrer hat gesagt: Wer zur Demo geht, kriegt einen Einser", sagt Yigal und lacht. Im Ernst fügt er hinzu: "lch wäre sowieso gekommen. Wir lassen uns die Demokratie nicht kaputtmachen."

Mindestens 100.000 Menschen sind laut Initiatoren am Montag zum Parlamentsgebäude in Jerusalem gekommen, um gegen die Entmachtung der Justiz zu protestieren, manche sprechen sogar von bis zu 200.000 Teilnehmenden. Jedenfalls sind es so viele, dass auch der angrenzende Oberste Gerichtshof in die Demonstration eingeschlossen wird – passend zum Anlass.

Video: Szenen aus Jerusalem, wo am Montag Tausende gegen eine umstrittene Justizreform demonstriert haben.
DER STANDARD

Kaum jemals sah man so viele Israelis ihre Sympathien für die Spitzen der Justiz ausdrücken. Mit roten Herzen und Stickern wie "Ich liebe das Höchstgericht" oder Bildern der Generalstaatsanwältin im Superstar-Outfit bringen die Demonstranten auf den Punkt, was sie von einer Entmachtung der Justiz halten. "Levin, Levin, das hier ist nicht Polen!", reimen sie auf Hebräisch. Der Adressat ist Jariv Levin, Justizminister und oberster Kommandant der geplanten Rechtsstaatssprengung.

Im Inneren des Parlamentsgebäudes haben die Abgeordneten der Koalition im Verfassungsausschuss soeben den ersten Teil der umstrittenen Justizreform beschlossen.

In einer Rede vor den Demonstranten feuert Oppositionsführer Jair Lapid die Menge an. Die Bevölkerung weigere sich, das Spiel der Regierung mitzuspielen, sagt Lapid. "Wir sind nicht nur dazu da, Steuern zu zahlen und unsere Kinder in die Armee zu schicken."

Auch Unis äußern sich

Israel liegt an diesem Montag im Generalstreik. Tausende Betriebe haben sich dem Streik angeschlossen, allein 300 von ihnen gehören dem für Israel so wichtigen Hightech-Sektor an. Die wichtigsten Universitäten rangen sich in den vergangenen Tagen zu einer klaren Haltung durch. "Der jüdisch-demokratische Staat ist in Gefahr", erklärten Präsident und Rektor der renommierten Hebräischen Universität in Jerusalem in einer Aussendung. "In einer solchen Gefahrenlage kann man nicht schweigen." Fakultät und Studierende seien aufgerufen, sich dem Protest anzuschließen.

Spät, aber doch richtete sich Sonntagabend schließlich auch der israelische Staatspräsident Yitzhak Herzog in einer Rede an die Nation, mit einem klaren Aufruf an die Regierung. Die derzeitige Lage sei "ein Pulverfass", warnte Herzog. Er rief die Koalition auf, innezuhalten und nicht wie geplant im Eiltempo mit der Entmachtung der Justiz fortzufahren. Der soziale Zusammenhalt Israels sei in Gefahr, wenn die Regierung einfach die zweite Hälfte der Bevölkerung ignoriere, so Herzog.

Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag des öffentlichen Senders Kan 11 sprechen sich 50 Prozent der Israelis gegen die Justizreform aus. Nur 27 Prozent erklären sich mit den weitgehenden Einschnitten im Rechtsstaat einverstanden, der Rest ist noch unentschlossen.

Justizminister Jariv Levin zögerte nicht lange damit, dem Präsidenten eine Abfuhr zu erteilen: Er denke nicht daran, die Gesetzgebung zu stoppen, sagte er Sonntagabend. Wie geplant landete der erste Teil der Reform am Montag im Parlamentsausschuss. Höchstrichter sollen künftig politisch nominiert werden, Entscheidungen des Obersten Gerichtshof von der Koalition abgeschmettert werden können. Die Ausschusssitzung artete aus: Abgeordnete der Opposition riefen "Schande, Schande!" im Chor, einzelne Parlamentarier sprangen auf die Bänke. 20 Oppositionelle wurden des Saals verwiesen.

Kompromissvorschlag

Welchen Effekt die Massendemonstrationen und die Rede des Präsidenten haben werden, ist unklar. Herzog hat einen Fünf-Punkte-Kompromissvorschlag präsentiert und forderte Koalition und Opposition auf, auf dieser Basis zu verhandeln.

Immer lauter werden nun die Stimmen, die in der von Herzog geöffneten Tür den letzten Ausweg sehen. In ungewöhnlich klarer Weise erklärte US-Botschafter Tom Nides seine Unterstützung für den Appell. Der Ball liegt nun bei Premier Benjamin Netanjahu. Doch der schweigt. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 13.2.2023)