Im schwer zerstörten syrischen Sarmada demonstrieren Menschen gegen die Uno, der sie vorwerfen, nicht helfen zu wollen. Die verweist darauf, dass auch Rebellengruppen die Hilfe behindern, nicht nur das Regime.

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An den Gebieten in Syrien, die vom Erdbeben vergangenen Montag am meisten betroffen sind, wird man vermutlich einmal studieren, was eine sogenannte multiple Krise mit einer Bevölkerung macht. Etliche, die jetzt auf der Straße stehen, haben im syrischen Krieg ab 2011 schon einmal oder mehrmals ihre Wohnungen beziehungsweise ihre Heimat verloren. Viele waren schon vor dem Erdbeben auf Hilfe angewiesen. Und politische und logistische Umstände führen dazu, dass bei ihnen in den ersten Tagen – im Vergleich mit der Türkei – so gut wie keine Hilfe von außen ankam.

VIDEO: In der Türkei sind seit Tagen zahlreiche internationale Rettungsteams im Einsatz. Mehr als 150 Stunden nach dem verheerenden Erdbeben können Rettungskräfte aus El Salvador und der Türkei einen kleinen Jungen und eine junge Frau lebend aus den Trümmern bergen.
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Auch Gebiete, die unter Kontrolle von Damaskus stehen – Latakiya, Aleppo – sind betroffen, dort zeigen sich Regimefiguren, auch Bashar al-Assad, selbst. Neben dem Norden der Provinz Aleppo ist Idlib ist die einzige, die in der Hand von nichtkurdischen syrischen Rebellen ist, die wiederum unter türkischer Protektion stehen. Nach Idlib wurden in den vergangenen Jahren auch Kämpfer und ihre Familien aus ganz Syrien hingebracht. Das geschah im Rahmen von lokalen Waffenstillständen, die von Russland für das Regime vermittelt wurden.

Idlib abgeschnitten

Dass das Regime prioritär den eigenen Klienten hilft, liegt auf der Hand. Aber die Uno, gegen deren Trägheit in den Erdbebengebieten protestiert wird, ist am Sonntag mit einem anderen Aspekt an die Öffentlichkeit gegangen. In Idlib soll demnach Hilfe, die vom Regimegebiet kommen sollte, von der dort dominanten Rebellengruppe HTS nicht durchgelassen worden sein.

Die Hay'at Tahrir al-Sham (Komitee zur Befreiung der Levante), deren Führung sich früher offen zu Al-Kaida bekannte, will nicht, dass den Menschen von Damaskus aus geholfen wird, meldete Reuters. Offenbar fürchtet man, das Regime könnte wieder an Einfluss gewinnen.

Aber auch ein Konvoi mit Treibstoff, der aus dem kurdisch verwalteten Nordosten Syriens stammte, soll von den Rebellen im Nordwesten zurückgewiesen worden sein. Generell wird der Hilfe von der anderen Seite mit großem Misstrauen begegnet, denn man wisse nicht, was mit ihr kommt.

Idlib soll demnach auf Wunsch der HTS nur von der Türkei aus versorgt werden: Dazu gibt es laut offizieller Vereinbarung nur einen einzigen offenen Grenzübergang – vom Beschützer des Assad-Regimes, Russland, beim Aushandeln einer betreffenden Uno-Sicherheitsrats-Resolution so bestimmt. Dieser, Bab al-Hawa, war in den Tagen unmittelbar nach dem Beben wegen Straßenschäden nicht erreichbar.

Syrien im Sicherheitsrat

Die Uno bemüht sich um die Öffnung weiterer Übergänge neben Bab al-Hawa. Am Montag briefte Uno-Hilfskoordinator Martin Griffiths, der zuvor in der Region gewesen war und auch mit Assad gesprochen hatte, den Sicherheitsrat in New York. Nach Angaben von US-Generalsekretär António Guterres erklärte sich Assad bereit, für eine Dauer von drei Monaten zwei weitere Grenzstationen zwischen Rebellengebiet und Türkei öffnen zu lassen, auch ohne Beschluss des Sicherheitsrats. Über diese Grenze kann nun wenigstens Hilfe für die Überlebenden kommen, für die Menschen unter den Trümmern ist es zu spät.

Die Organisation "Weiße Helme" in den Rebellengebieten, die auch bei russisch-syrischen Bombardements als Bergungstrupp fungiert, kritisierte die Uno für die Einbindung von Assad. Es ist ein politisches Dilemma und eine Grundsatzentscheidung: Denn Moskau und Damaskus sperren sich dagegen, dass die Hilfe an ihnen vorbei anläuft. Den Preis dafür bezahlen die Opfer.

Die USA haben hingegen die sogenannten Caesar Sanctions, ein Gesetzespaket mit Strafmaßnahmen gegen Syrien von 2019, teilweise ausgesetzt. Sonst wären auch Entitäten, die Syrien helfen, von Sanktionen bedroht. Auch die Türkei zeigt sich bereit, Hilfe direkt in die von Damaskus kontrollierten Gebiete durchzulassen: In der letzten Zeit hat ja Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der früher den Sturz Assads wollte und noch immer Rebellen unterstützt, eine Versöhnung mit Assad nicht ausgeschlossen.

Die Vereinigten Arabischen Emirate, die hinter dieser türkisch-syrischen Annäherung stehen, helfen sowohl in der Türkei als auch in Syrien. Außenminister Abdullah bin Zayed hielt sich am Sonntag in den türkischen Erdbebengebieten und am Montag in Damaskus auf. Auch andere arabische Staaten helfen in Syrien, etwa Algerien, das sich politisch nie völlig gegen Assad gestellt hat wie andere Mitglieder der Arabischen Liga. Unterstützung kommt auch aus Ägypten, Irak, Jordanien, Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten.

Hetze gegen Flüchtlinge

Das Beben hat sowohl in Syrien als auch in der Türkei eine große Welle der Hilfsbereitschaft hervorgerufen. Aber Katastrophen bringen nicht nur das Beste in den Menschen hervor, sondern oft auch das Schlechteste. In der Türkei haben sich Ultranationalisten die Schwächsten, die syrischen Flüchtlinge, vorgenommen, um ihnen allein die stattfindenden Plünderungen anzulasten. Es gibt jedoch keine Daten, die belegen, dass Syrer überdurchschnittlich bei Plünderungen vertreten wären. Auch der bekannte Satz "Die Flüchtlinge bekommen alles, wir nichts" kommt in sozialen Medien vor.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts schlägt durch: Die jetzige Provinz Hatay mit der Stadt Antakya – vom Erdbeben schwerst betroffen – wurde von der Türkei erst 1939 eingegliedert. Unter dem französischen Mandat nach dem Ersten Weltkrieg war das Gebiet als Sanjak Alexandretta ein Teil von Syrien. Wenn Türken und Türkinnen dort vom Erdbeben deplatziert würden und nur syrische Flüchtlinge blieben, gehe dieses Gebiet de facto für die Türkei verloren, hetzen Ultras.

Auf der anderen Seite entwickeln sich unter den syrischen Flüchtlingen in der Türkei Opfernarrative: etwa dass nur die Häuser, in denen sie untergebracht waren, so schlecht gebaut waren, dass sie beim Beben zerstört wurden. (Gudrun Harrer, 14.2.2023)