An der Neutralität will der Kanzler auch nach einem Jahr Krieg in der Ukraine nicht rütteln.

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Dass sich die EU-Regierungschefs vergangene Woche beim EU-Sondergipfel auf eine Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik geeinigt haben, wertet Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) als Erfolg für Österreich. Auch wenn in der Schlusserklärung nach stundenlangen Verhandlungen nirgends explizit etwas von "Zäunen" zu lesen war – das Aufstellen von solchen hatte Nehammer zuvor eingefordert: So "klare Worte" zum Thema Migration habe es in EU-Dokumenten bislang nicht gegeben, sagte der Kanzler am Dienstag zu Journalistinnen und Journalisten.

Statt unbürokratischerer Visa-Vergabe für Bebenopfer, wie sie Deutschland angekündigt hat, will Kanzler Nehammer ein "Aufbauprogramm" für die Türkei.
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Wenn er nun einen "Erfolg" in der Migrationspolitik sehe, werde Österreich dann sein umstrittenes Veto gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens zurücknehmen? Das verneinte der Kanzler auf Nachfrage. Das Veto werde so lange aufrechtbleiben, solange das Schengen-System "dysfunktional" sei. Nehammer verwies erneut auf Asylanträge von rund 75.000 Menschen, die vor ihrer Ankunft in Österreich nicht registriert worden seien, obwohl sie die EU-Außengrenze schon längst überschritten hatten. Er erinnerte zudem an die nach wie vor bestehenden Grenzkontrollen Deutschlands gegenüber Österreich. Da Deutschland Rumänien und Bulgarien für beitrittsreif halte, sollten auch diese Kontrollen zu Österreich ausgesetzt werden, argumentierte der Kanzler. Auch Deutschland habe Österreichs Schengen-Beitritt einst blockiert, weil man fürchtete, Österreich könne seine Außengrenze nicht ausreichend schützen.

Aufbauprogramm in Türkei

Nehammer sagte das in einem so betitelten "Kanzlergespräch". Das Format hatte im Dezember zum ersten Mal stattgefunden – damals anlässlich des Ein-Jahr-Amtsjubiläums Nehammers, zu dem man lieber ein längeres Gespräch mit den versammelten Medienvertreterinnen führen wollte, als mehrere einzelne Interviews zu geben.

Und auch in der zweiten Auflage am Dienstag waren die Themen Asyl und Migration sehr präsent. Der Zaun, bekannte der Kanzler später, sei eine Maßnahme, aber "nicht die Lösung" für die Migrationsdebatte – Fachleute hatten zuletzt mehrmals darauf hingewiesen, dass Zäune und Mauern die Migration nicht stoppen, sondern verlagern würden. Neben Grenzschutz und Grenzkontrollen brauche es auch schnellere Asylverfahren und Rückführungen, sagte Nehammer – und ein generell koordinierteres Vorgehen auf EU-Ebene in puncto Rückführungspolitik.

Der Kanzler bekräftigte zudem, dass Österreich seine Visa-Kriterien nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien nicht ändern wird – das Innenministerium unter Ressortchef Gerhard Karner (ÖVP) hatte das bereits am Montag verkündet. Das sei nicht als "Härte" zu verstehen, sagte Nehammer, sondern als "konsequente Fortsetzung" des Prinzips "Hilfe vor Ort".

Hintergrund: Deutschland hat angekündigt, Opfern des Erdbebens unbürokratisch Visa erteilen zu wollen (siehe unten). Nicht jede "Ankündigung" sei auch "automatisch effizient", sagte Nehammer dazu. Man werde erst sehen, wie die deutschen Pläne funktionieren. Ein "Aufbauprogramm" für die Türkei hält der Kanzler dagegen für nötig. Die Bundesheer-Mission vor Ort werde man noch eine Zeitlang fortsetzen.

Kein Rütteln an Neutralität

An der Neutralität will der Kanzler auch nach einem Jahr Krieg in der Ukraine nicht rütteln. Österreich habe gerade wegen seiner Neutralität besonders bei Staaten außerhalb der EU "eine ganz andere Gesprächsposition" und ein "besonderes Standing" in Gesprächen, weil man nicht Teil eines Militärbündnisses sei. Es zu verlieren wäre ein "zu hoher Preis". Österreichs Geschichte der Neutralität sei auch eine "Geschichte der Freiheit".

Von Straßenblockaden durch "Klimakleber", wie sie aktuell in Wien wieder täglich stattfinden, hält der Kanzler dagegen nichts. Das sei "die völlig falsche Form des Protests. Es handelt sich um die Sabotage der Zivilgesellschaft." Menschen würden durch die Aktivistinnen und Aktivisten daran gehindert, ihrem Lebenserwerb nachzugehen, "es werden Einsatzfahrzeuge behindert", erklärte Nehammer. Der Protest richte sich damit "gegen die gute Sache". Festnahmen seien der richtige Weg, die "Null-Toleranz-Politik" des Innenministers "richtig und wichtig".

Die Ermittlungen gegen sich in der Cobra-Affäre rund um betrunkene Personenschützer sieht Nehammer unterdessen "gelassen". Die Grundlage für die Ermittlungen sei ein "Pamphlet", das "falsch" sei. Er vertraue in der Angelegenheit auf die Behörden in Österreich, sagte der Kanzler. Der Vorwurf, er habe an höchster Cobra-Stelle interveniert, sei "schon fast eine Beleidigung meiner Intelligenz". Als früherer Innenminister wisse er schließlich, dass jede Intervention "veraktet" werde. Nehammer wies die Vorwürfe zurück. (Martin Tschiderer, Mitarbeit: mk, 14.2.2023)