Sozialphilosoph Jürgen Habermas (93) hält fest an der Idee von der Verrechtlichung von Konflikten.

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Zehn Monate nach seiner ersten, kontrovers diskutierten Einlassung zum Ukraine-Krieg meldet sich der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas (93) erneut zu Wort. Sein in der Süddeutschen Zeitung abgedruckter, umfangreicher Aufsatz nennt sich Ein Plädoyer für Verhandlungen. Habermas verdeutlicht darin das zunehmende Dilemma der westlichen Unterstützung für die angegriffene Ukraine.

Jede Unterstützungsbitte aus Kiew ziele ab auf ein "Upgrading" der zu liefernden Waffensysteme. Demgegenüber fehle, so Habermas, eine genauere Bestimmung der zu erreichenden Kriegsziele. Ab welchem Punkt, so die Frage des greisen, am Starnberger See lebenden Diskursethikers, entwickle die "Qualitätssteigerung unserer Waffensysteme" eine Eigendynamik? Ab wann werde der Westen – von diesem gleichsam unbemerkt – über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinausgetrieben?

Mögliche Einwände gegen seine Skepsis nimmt Habermas vorweg. Gerade pazifistische Anwandlungen weist er, ein Jahr nach Beginn von Putins beispielloser Aggression, zurück. Seine Forderung lautet, durchaus im Imperativ: Die Ukraine dürfe diesen Krieg nicht verlieren. Die Formel, dass die militärische Unterstützung der Ukraine "so lange wie nötig" zu erfolgen habe, bezeichnet Habermas hingegen als unplausibel. Mit dem Anwachsen vergehender Zeit werde die "zermalmende Wirkung" des Krieges immer augenscheinlicher. Schon jetzt erinnere der Stellungskrieg rund um Bachmut an das Ausbluten vor Verdun im Ersten Weltkrieg 1916.

Aus der Zuspitzung der Kriegslogik ergibt sich für Habermas der ihn leitende moralische Gesichtspunkt. Jede weitere Eskalation mache eine Einhegung und, irgendwann einmal, eine Verhandlungslösung des Ukraine-Krieges schwieriger. Von der Verpflichtung zur "Abwägung der Verhältnismäßigkeit" könne man auch die Unterstützungsleister nicht entbinden. Die Erschöpfung von Menschen und Ressourcen gelte es im Auge zu behalten.

Akuter Regelungsbedarf

Habermas betont in einer für ihn typischen Wendung den "vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen". Und schwächt Kriegsziele ab, die von einem "Regime-Change" im Kreml ausgehen. Jürgen Habermas gibt sich weniger als Pazifist denn als Realist zu erkennen. Es sei notwendig, "einen Waffenstillstand und Verhandlungen herbeizuführen, die mindestens mit der Herstellung des ,status quo ante‘ am 23. Februar 2022 eine mögliche Niederlage abwenden". In einem zweiten, ferneren Schritt werde es dem Westen nicht erspart bleiben, seine mittel- und osteuropäische Politik neu auszurichten.

Bei Habermas heißt so etwas trocken: Es besteht "Regelungsbedarf". Offen lässt der Sozialphilosoph, worin die "Erträglichkeit" eines Kompromisses bestehen könnte, zumal für die überfallene Ukraine. (Ronald Pohl, 15.2.2023)