Dass in Österreich die verschiedenen Pandemiemaßnahmen evaluiert werden sollen, ist höchst an der Zeit. Einfach wird die Übung aber nicht werden.

APA / AFP / Joe Klamar

Nach rund drei Jahren Corona-Pandemie wird nach wie vor heftig über den richtigen Umgang mit dem Virus debattiert. Was war vertretbar in Hinblick auf die damit verbundenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen? Und was ging zu weit?

In Österreich hat sich die Regierung – sehr viel später als in anderen Ländern – endlich dazu durchgerungen, die gesetzten Maßnahmen evaluieren zu lassen. Der am Mittwoch angekündigte "Versöhnungsprozess" solle dazu beitragen, die entstandenen Gräben, die sich in den vergangenen drei Jahren aufgetan haben, wieder ein wenig zuzuschütten, heißt es. Wie der Prozess konkret aussehen soll, ist allerdings noch nicht ganz klar. Absehbar ist aber, dass eine solche Aufarbeitung weder wissenschaftlich noch politisch einfach werden wird.

Die Komplexität der Aufarbeitung

Das beginnt damit, dass es überaus komplex ist, die Wirksamkeit von Covid-19-Maßnahmen wie Lockdowns und anderer Interventionen zu ermitteln. Noch schwieriger wird die ganze Angelegenheit dadurch, dass es beim Aufarbeiten der Maßnahmen nicht nur um wissenschaftliche Wirksamkeitsberechnungen geht, sondern natürlich auch um Werturteile – etwa darüber, wie die verschiedenen Kosten zu gewichten sind, die einige Gruppen der Gesellschaft stärker belasteten als andere.

Bei all dem sollte der heutige Wissensstand und Immunisierungsgrad nicht auf eine Zeit rückprojiziert werden, als wir infektiologisch und immunologisch deutlich naiver waren, und zwar im doppelten Sinne. So ist etwa zu berücksichtigen, dass die Omikron-Varianten, die ansteckender sind, weniger schwere Krankheitsfolgen zeitigen, aber auch mehr Immunflucht aufweisen (was die Impfungen weniger wirksam machte), erst ab 2022 bei uns dominant wurden.

Die Wissenschaft kann vor allem beim ersten Punkt helfen: also wie gut die verschiedenen Maßnahmen wirkten. Das lässt sich natürlich nur im internationalen Vergleich eruieren, was dutzende Studien in den vergangenen zweieinhalb Jahren auch versucht haben. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind aber alles andere als einheitlich. Einfache Schlussfolgerungen daraus zu ziehen ist entsprechend schwierig.

Das Beispiel Schweden

Um nur ein prominentes Beispiel zu nennen: Das von vielen gerne als Vorbild gepriesene Schweden begnügte sich vor allem mit Empfehlungen, hielt die Schulen offen (außer für ältere Schülerinnen und Schüler) und schnitt bei der Covid-19-Übersterblichkeit dennoch besser ab als viele andere Länder inklusive Österreich. Im Vergleich zu skandinavischen Nachbarländern mit ganz ähnlichen Voraussetzungen fiel Schwedens Übersterblichkeitsbilanz allerdings deutlich schlechter aus.

In Schweden leben zudem – so wie bei den nördlichen Nachbarstaaten – besonders viele Menschen allein, und die Haushalte sind kleiner als in so gut wie allen anderen Ländern Europas. In Skandinavien herrscht aber auch ein traditionell hohes Vertrauen in die Politik, was sich dadurch bemerkbar machte, dass sich die Mobilität der Schwedinnen und Schweden in ähnlichem Maße einschränkte wie in Ländern mit verordnetem Lockdown, wie Handydaten ergaben.

Bewertung der Maßnahmen

Doch zurück zur Evaluierung der Maßnahmen und ihrer Wirkungen – und was die Wissenschaft dazu herausgefunden hat. Da zu Beginn der Pandemie die Unsicherheit bezüglich der Übertragung und Sterblichkeit bei Sars-CoV-2 besonders groß war (und auch Horrorzahlen kolportiert wurden), entschieden sich viele Länder zunächst für eine relativ restriktive Politik. Dass dies sinnvoll war, bestätigt unter anderem eine Studie von Forschenden der Uni Oxford: Je strikter und besser zeitlich abgestimmt die ersten Eindämmungsmaßnahmen waren, desto erfolgreicher konnten damals Covid-19-Todesfälle verhindert werden.

Die Bewertung der Wirkung einzelner Maßnahmen ist dann schon deutlich schwieriger und kommt auch auf deren Kontext und die Untersuchungsmethode an, wie eine frühe Studie des Teams um Peter Klimek (Complexity Science Hub Vienna) zeigte. Ein paar Interventionen erwiesen sich aber in den meisten Studien als wirksam. Dazu zählten das Verbot größerer und kleinerer Versammlungen, die Schließung von Geschäften und Schulen, dicht gefolgt von Beschränkungen an den Landesgrenzen. Weniger einschneidende Maßnahmen – wie die staatliche Unterstützung für gefährdete Bevölkerungsgruppen und Strategien zur Risikokommunikation – hatten ebenfalls Wirkung.

"Alles mit Maß"?

Eine relativ neue Studie von Leonidas Spiliopoulos (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung) im Fachblatt "BMC Public Health" hebt zudem die Bedeutung umfangreicher Tests hervor, mit denen 50 Prozent der Wirkung optimaler Maßnahmen erreicht werden konnten, ohne dass es zu erheblichen negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft kam. Seine Studie enthält allerdings nur Daten bis Mitte April 2021, aber aus immerhin 132 Ländern. (Ob das rigorose und kostspielige Testen in Österreich, das vor allem nach diesem Zeitpunkt begann, gar so viel gebracht hat, wäre also eigens zu ermitteln.)

Spiliopoulos' Resümee seines internationalen Maßnahmenvergleichs, dessen Ergebnisse sich in vielen Punkten mit der Klimek-Studie treffen: "Pan metron ariston" – alles mit Maß. Laut seinen Analysen zeigte sich nämlich, dass mäßig harte Maßnahmen etwa 90 Prozent der maximalen Wirksamkeit nicht-pharmazeutischer Interventionen ausmachten.

Wirksamkeit je nach Welle

Zumindest zwei weitere Faktoren komplizieren die Bewertung: Erstens variierte die Wirksamkeit der Maßnahmen, die vor allem zur Abflachung der Kurven dienten, je nach Welle: So wurde in mehreren Studien festgestellt, dass die Schulschließungen der zweiten Welle eine deutlich geringere Wirkung hatten. Umgekehrt ging die Sterblichkeitsrate um 20 Prozent zurück, weil es bessere Behandlungsmöglichkeiten gab. Dass Omikron die Pandemie noch einmal völlig veränderte, wurde bereits erwähnt.

Zweitens herrscht in manchen Fragen auch unter Fachleuten weiterhin Uneinigkeit – was etwa die Bewertung der Wirksamkeit von (FFP2-)Masken oder die Sinnhaftigkeit der Impfungen für jüngere Bevölkerungsgruppen betrifft. Hier fehlt es für viele Expertinnen und Experten nach wie vor an Evidenzen, die einen eindeutigen Nutzen belegen.

Unvollständige Information

Das Problem der Politik: Sie musste trotz all dieser Anfang 2020 nur spärlichen und bis heute mitunter widersprüchlichen wissenschaftlichen Informationen Entscheidungen treffen. Dabei sind in Österreich in allen Bereichen – der Wissenschaft, der Politik, aber auch in den Medien – Fehler passiert, die unbedingt aufgearbeitet werden müssen.

Angesichts der hier nur angedeuteten Komplexität einer solchen Evaluierung kann man nur hoffen, dass dieser Prozess möglichst sachlich, gut moderiert und unter Einbeziehung auch internationaler Fachleute passieren wird. Denn vor allem auf diese Weise ließe sich aus einer Aufarbeitung für eine nächste Epi- oder Pandemie lernen. (Klaus Taschwer, 16.2.2023)