Lieber Heinz, mir kommt vor, du hast zuletzt ein bisschen über die Stränge geschlagen. Du könntest in nächster Zeit etwas weniger essen und gesünder. Und apropos, auf deiner Navigationsroute liegt der Bio-Landladen XY – schlage vor, du fährst da jetzt einmal vorbei und holst dir einen Salat. Bitte bestätigen." Eine Kommunikation dieser Art wird künftig womöglich zum Standardrepertoire gehören, und damit ist schon eine Facette eines neuen Megatrends skizziert, der in den nächsten Jahren enorm an Fahrt aufnehmen wird.

Schon jetzt erkennt Sensorik, ob da was faul ist im Staate Dänemark, und hebt warnend den Zeigefinger.
Foto: Bosch

Hintergründe und Bandbreite der anstehenden Revolution lassen wir uns dieser Tage von Heinz Hollerweger in seinem steirischen Domizil bei Heimschuh schildern. Der aus Linz stammende langjährige Audi-Topmann lehrte 1980 als junger Fahrwerksspezialist den Ur-Quattro sozusagen das Laufen, er war zuletzt Chef der flotten Abteilung, der Quattro GmbH, und ist heute freiberuflich hauptsächlich im Automobilbereich tätig, bei Bentley beispielsweise.

Jedenfalls, der Mensch steht im Visier. Wieder einmal. Immer raffiniertere Vernetzung immer raffinierterer Sensorik ist nicht mehr nur nach außen hin ein Thema – Stichwort autonomes Fahren –, sondern teilweise auch schon in der Fahrzeugkabine. Sie kennen das ja: Wenn Sie unkonzentriert Auto fahren, empfiehlt die Müdigkeitserkennung mittels Kaffeetasse, besser kurz einmal Pause zu machen. Kinderrettungserkennung ist ganz aktuell, sie wird rasch breitenwirksam werden: Ein Innenraum-Radarsystem ermittelt, ob Sie die Kinder, die Schwiegermutter, den Schwiegerkater oder sonst wen im Auto vergessen haben. Dann schlägt das System Alarm, Motto: Alle müssen raus.

Kameras und Radar übernehmen im Innenraum immer wichtigere Funktionen. Die Zeiten von Drucksensoren im Sitz sind womöglich bald vorbei. Kaum jemand wird vermissen, durch Piepsen aufgefordert zu werden, das Gepäck anzuschnallen.
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Aber da kommt noch mehr. Viel mehr. Heinz Hollerweger benennt, wie immer glasklar strukturiert, die wesentlichen Treiber, wesentlichen Geschäftsmodelle, wesentlichen Risiken. Treiber: Die Wearable-Industrie, die mehr und mehr auf Gesundheit und Fitness setzt. Dann AI-basierte medizinische Auswertealgorithmen, bis hin zur Stimmungserkennung und Diagnose, Telemedizin etc. Der dritte Treiber ist dann eh schon automotiv geprägt, "weil man, auch wenn es noch keine gesetzlichen Regelungen gibt, annimmt, dass es zumindest mit Level 4 (autonomes Fahren) eine Technik geben wird, wo das Auto detektieren muss, ob der Fahrer im Falle des Falles in der Lage ist, das Fahrzeug aktiv zu übernehmen. Da ist also sowieso schon eine gewisse Fahrerbeobachtung und -überwachung nötig." Zudem würden Sensoren – Radar, Kameras etc. – mittlerweile billig, was die Frage nahelege: Kann man daraus nicht ein Paket stricken für beispielsweise eine gewisse Gesundheitsvorsorge, sofern der Kunde das will.

Pluspunkt Käfighaltung • Damit sind wir bei der Fahrerkabine. Hollerweger: "Das Auto bietet im Vergleich zu Wearables ganz andere Möglichkeiten. Du hast den oder die Insassen für relativ lange Zeit in relativ konstanter Position. In einem Kubus von 60 × 60 × 60 cm bist du mehr oder weniger ‚gefangen‘. Alles, was du dort an Beobachtung machen kannst, erfolgt in einer homogenen, ungezwungenen Atmosphäre. Dazu kommt: Du bist relativ regelmäßig im Auto. Während du dein EKG einmal im Jahr beim Gesundheitscheck machst, bist du im Auto fast täglich unterwegs. Ermittelst du also Vitaldaten, ohne die Insassen zu beeinflussen, berührungslos, bekommst du eine viel bessere Statistik über Herzfrequenz, Blutdruck oder sonst was."

Kindersicherheit ist dabei aktuell ein wichtiger Aspekt. Immer wieder werden Kinder bei Hochsommerhitze im Auto vergessen und damit gefährlich hohen und sogar tödlichen Temperaturen ausgesetzt. Die Technik wird in den USA bald verpflichtend.
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Achtung, Hausarzt an Bord: Berührungslos lassen sich künftig – Zeithorizont: zwischen drei und zehn Jahre – mittels Kameras und/oder Radar EKGs erstellen, Puls ("Wenn dein Herz schlägt, ändert sich die Farbe der Äderchen im Gesicht, die Kamera sieht und misst das.") und Blutdruck messen. Zum Detektieren von Atemfrequenz, -rhythmus bis hin zu Asthma oder Husten werden Kameras, Radar und kapazitive Sensoren (im Sitz etwa) vernetzt, Sauerstoffsättigung (mittels Durchleuchten der Fingerkuppen) ließe sich via Lenkrad bewerkstelligen, und mit Blutzucker und Körpertemperatur (schwierig, steht noch ganz am Anfang) hätte man die wesentlichen Vitalparameter beisammen.

Wermutstropfen: Die Versicherungsbranche wird sich freuen. Und der Datenschutz? Hollerweger: "Ganz großes Thema." Ob das außerdem nicht zu noch mehr Bevormundung führe (wie bei Volvo jetzt schon der Alkotest an Bord; kluge Sache übrigens)? "Diese Bevormundung wird kommen, allein aus gesellschaftlichen Interessen. In unterschiedlichen Ausformungen: In China wird es einfach Gesetz werden, in den USA wird ein großer Freiheitsdiskurs entbrennen, Europa wird wohl einen Mittelweg gehen."

Der EX90 von Volvo soll, mit Hilfe eines Radarsystems, Bewegungen im Innenraum von weniger als einem Millimeter messen können und so auch im Stand die Position und Anzahl der Insassen erkennen.
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Jedenfalls, all das ist natürlich enorm rechenaufwendig, wobei ein Teil davon an Bord erledigt wird, ein anderer außerhalb. Andere Hauptausprägungen des kommenden Trends? Die lokalisiert Hollerweger bei "Wellbeing" und Notfallvorsorge. Wellbeing: Da lassen sich künftig Fahrzeugparameter (Lenkung, Gaspedal, Federung, Musik, Beleuchtung, Klima etc.) auf das körperliche Befinden des Fahrers einstellen. Ist er müde, hellwach, braucht er eine Massage? Notfallvorsorge: Die Sensorik warnt vor medizinischen Notfällen, stellt bei Fahruntüchtigkeit das Fahrzeug am Fahrbahnrand ab, aktiviert die Rettungskette.

Hollerweger: "Ich persönlich sehe noch einen dritten Anwendungspunkt, das Kapitel Ernährung, Ernährungsberatung, Bewegungstipps. Ein riesiges Geschäftsfeld." Da kommt das rechtsgedrehte Müsli dann aus der Mittelkonsole, oder das Navi führt dich zum nächsten veganen Wirt, zum nächsten Reformhaus, Bioladen. Denn, es lebe die digitale Fürsorge: "Lieber Heinz, mir kommt vor, du hast zuletzt ein bisschen über die Stränge geschlagen." (Andreas Stockinger, 1.3.2023)