Es ist eine kleine, unbedeutend scheinende Szene, die man in der Moskauer Innenstadt beobachten kann. Sie zeigt aber, dass die Menschen in Russland nicht alle nur kriegsbegeistert sind. Seit Wochen legen Passanten am Denkmal der ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka Blumen nieder. "Ukraine, wir sind mit dir!" hat jemand in den frischen Schnee geschrieben.

VIDEO: Lieber im Gefängnis als an der Front: Russe verweigert Wehrdienst.
DER STANDARD

Zurzeit sind die Wintertage kalt und grau im Moskauer Februar. Nur selten durchbricht ein Sonnenstrahl die Wolken. Aber es ist nicht das Wetter, das vielen aufs Gemüt schlägt. Gespannt warten sie auf die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Lage der Nation in drei Tagen. Wie wird es weitergehen mit der "Spezialoperation" in der Ukraine? Droht gar eine neue Mobilmachung?

Im Sommer 2022 herrschte auf dem Roten Platz in Moskau große Betriebsamkeit – fast wie normal..
Foto: Alexander NEMENOV / AFP

"Den Nachrichten nach, die wir aus der Ukraine hören, gibt es schwierige Kämpfe", sagt Iwan, ein 35-jähriger Moskauer. "Das bedeutet, dass die Armee Verluste hat. Und ja, ich denke, es wird eine zweite Welle geben. Aber ich denke, sie wird nicht so chaotisch sein wie die erste." Iwan will weg aus Russland, sucht nach Möglichkeiten, im Ausland zu arbeiten. Antonia dagegen, 40 Jahre alt, ist mit ihrem Leben ganz zufrieden. Vor einer erneuten Mobilmachung hat aber auch sie Angst. "Ich hoffe sehr, dass es nicht passieren wird. Ich mache mir furchtbare Sorgen um meinen Mann."

Hoffen auf Kriegsende

Der Krieg, der in Russland nach wie vor "Spezialoperation" genannt wird, hat zu Anfang nur wenige Menschen interessiert. Durch die Teilmobilisierung im vergangenen Jahr ist das Thema nun in den Köpfen der meisten präsent. Laut einer Studie, zitiert in der Zeitung "Wedomosti", glaubt die große Mehrheit der Russen, dass die Kämpfe in der Ukraine innerhalb der nächsten zwei Jahre enden werden. Anfangs dachten viele, dass es eine "Spezialoperation" gegen die Ukraine sei, so die Studie. Jetzt werden die Kämpfe in der Ukraine als Konflikt zwischen Russland und dem Westen wahrgenommen. Und damit steigt auch in Russland die Angst vor einem Weltkrieg. In einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts befürchten dies 56 Prozent der Befragten.

Angst vor einem Krieg zwischen der Nato und Russland hat auch die Moskauer Pensionistin Natascha. Angst, dass Russland angegriffen wird. "Aber sie werden es nicht schaffen", sagt sie. "Russland ist ein großartiges Land. Wie oft haben sie versucht, es zu zerstören? Was wurde daraus? Wir gewannen immer! Wir werden auch jetzt siegen. Das russische Volk, das große Volk!"

So wie Natascha denken viele Menschen. In den Städten und besonders in der Provinz. "Unser Präsident hat wie immer recht", meint Natascha. Und erzählt, was sie tagtäglich im Staatsfernsehen hört und sieht. Russische Soldaten "schützen die Menschen im Donbass, die acht Jahre lang von der ukrainischen Macht gnadenlos bombardiert und zerstört wurden".

Spielzeugpanzer im Moskauer Vorort Kubinka.
Foto: EPA/YURI KOCHETKOV

Doch die Kämpfe in der Ukraine werden zunehmend ein Problem für den russischen Präsidenten. Zwar liegt seine Zustimmungsrate landesweit nach wie vor bei rund 80 Prozent. Doch zum Jahrestag der Invasion am 24. Februar müssen dringend militärische Erfolge her. Als Erfolg verkaufte der Kreml bereits die Annexion von vier ukrainischen Gebieten. Trotzdem kontrolliert Russland diese Regionen nicht komplett. Putin entschied sich für die Annexion, um nach monatelangem Kampf endlich ein Ergebnis zu präsentieren.

Putin sei nicht "wahnsinnig", meint Abbas Galljamow, der früher selbst im Kreml als Redenschreiber arbeitete, bescheinigt diesem aber "Kontrollverlust". Der Ex-Geheimdienstler Putin, der einst im sowjetischen KGB Karriere machte, sei nicht mehr Herr der Lage. Putin sei ein Getriebener der Lage in der Ukraine. Er habe seinen Status als "heilige Figur", als Garant für Stabilität und auch die Loyalität des russischen Militärs verloren, so Galljamow, der inzwischen Russland verlassen hat.

Destabilisator Putin

"Putin ist heute der größte destabilisierende Faktor, ein Destabilisator", sagt er. Russlands Elite verliere jetzt ihren Halt, weil sie sich 22 Jahre auf Putin gestützt habe. Doch Galljamow weiß auch, dass Putins Ressourcen noch gewaltig sind – auch wegen der Ergebenheit des Sicherheitsapparats. Über mögliche Nachfolger im Präsidentenamt wird trotzdem bereits spekuliert.

Das Kriegssymbol "Z" ist omnipräsent.
Foto: EPA/YURI KOCHETKOV

In einem Jahr wird in Russland gewählt. Der Politologe Galljamow glaubt, Putin könnte – wenn überhaupt – selbst einen Nachfolger benennen, dem er vertraue. Als einen möglichen Kandidaten sieht er Sergej Sobjanin, den Bürgermeister von Moskau. Auch Jewgeni Prigoschin, der Chef der in der Ukraine gerade erfolgreichen Söldnertruppe Wagner, gewinnt an Macht und Einfluss. Ungestraft darf er die russische Militärführung kritisieren. Prigoschin selbst dementiert jede politische Ambition.

Land verlassen

Der Kreml klammert sich an die Macht. Und entfernt sich mehr und mehr von den Menschen. Das zumindest ist der Eindruck von Alexander, der in Perm als Rechtsanwalt gearbeitet hat. "Von sozialen Problemen in der Gesellschaft distanzierte sich der Staat so weit wie möglich", sagt er. "Ich habe den Eindruck, dass der Staat uns nicht wahrnehmen will. Es ist einfacher, etwas zu verbieten, etwas zu bestrafen. Glauben Sie, dass ich einen solchen Herrscher respektiere? Deshalb habe ich den Koffer gepackt und bin weggegangen."

Weggehen, das Land verlassen, ist die eine Alternative für Menschen, die den Staat kritisch sehen. Rund 700.000 haben das bereits getan, nicht nur aus Angst, eingezogen zu werden. Zumeist sind es junge, gut ausgebildete Russinnen und Russen. Arbeitskräfte, die der Wirtschaft jetzt fehlen. Die andere Alternative für Kritiker wäre Opposition, Protest. Doch das wird zunehmend schwieriger.

Nahezu alle Oppositionsmedien sind verboten, renommierte Menschenrechtsorganisationen ebenso. Memorial kümmerte sich um die Aufarbeitung der Verbrechen der Stalinzeit, Ende 2021 wurde sie aufgelöst. Das Gleiche geschah mit der Helsinki-Gruppe, der ältesten Menschenrechtsorganisation in Russland. Das Sacharow-Zentrum in Moskau, das die Erinnerung an den sowjetischen Atomphysiker, Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow wachhält, wurde zum "ausländischen Agenten" erklärt. Und Kreml-Kritiker Alexej Nawalny sitzt auf Jahre im Straflager.

Teuerung auch in Russland

Gleich gegenüber dem Denkmal, wo Menschen der Toten in der Ukraine gedenken, ist ein Supermarkt einer großen russischen Kette. Alles ist reichlich vorhanden, vieles aber ist teurer geworden. Offiziell liegt die Inflationsrate in Russland bei 11,9 Prozent. Sehr teuer sind Waren aus dem Westen, die wegen der Sanktionen über Drittstaaten wie Kasachstan oder die Türkei importiert werden müssen. Aber die Sanktionen zwingen Russland wirtschaftlich nicht in die Knie – auch wenn sie in manchen Bereichen spürbar sind. So haben einige Städte die Ausstellung von Reisepässen vorübergehend eingestellt. Es fehlen die erforderlichen Mikrochips. Genauso wie Ersatzteile für Flugzeuge und Maschinen, die aus dem Westen importiert wurden. "Natürlich gibt es Auswirkungen der Sanktionen. Dies spiegelt sich sowohl in der Arbeit als auch in den Preisen wider", sagt die Moskauerin Antonia. Sie arbeitet in einem Logistikunternehmen, das sich gerade von Transporten in Richtung Westen nach Osten umorientiert. "Ein sehr intensiver Prozess" sei das.

In den großen Städten hat sich seit Beginn der Invasion in die Ukraine der Alltag kaum verändert. In der russischen Provinz ist das anders. Für die 33-jährige Olga zum Beispiel. Sie lebt in der Region Saratow, arbeitet als Verkäuferin. "Es ist schwieriger geworden, Geld zu verdienen. Die Nachfrage ist stark gesunken, und für kleine und mittlere Unternehmen ist dies ein Problem", sagt sie.

Nadeschda ist Lehrerin, lebt auch auf dem Land. Was, wenn doch eine schlimmere Wirtschaftskrise kommt? Lebensmittelknappheit und Geldentwertung wie in den 90er-Jahren in Russland? Nadeschda hat ein Patentrezept. "Die Hühner bringen uns Eier. Gemüse wächst auf dem Feld, im Garten wachsen Früchte. Wir haben Ziegen und halten Schweine."

Flucht nach Israel

Konstantin, ein IT-Spezialist in Moskau, ist nachdenklich. "Die Einkaufszentren, Cafés, Restaurants sind voll. Aber es gibt eine Veränderung in meiner Umgebung. Viele meiner Freunde haben das Land verlassen." Sein Namensvetter Konstantin aus Sankt Petersburg lebt inzwischen in Israel. Gerade hat er dort die Staatsbürgerschaft bekommen, er hat jüdische Wurzeln. Aber er will eigentlich wieder zurück in seine Heimat. "Ich hoffe auf eine Lösung des Konflikts." Die Menschen, die in Russland geblieben sind, versuchen mit der Situation zurechtzukommen. Die Jüngeren haben die Sowjetzeiten nicht mehr erlebt. Das Land orientierte sich zunehmend in Richtung Westen. Das ist nun zerbrochen. Für den Moment, vielleicht aber auch für immer. Der Konflikt im Land ist auch ein Generationenkonflikt.

Die Jungs an der Front

Natascha, die Pensionistin, hat zusammen mit ihrer Freundin Vera inzwischen ein Paket gepackt. Warme Sachen und Zigaretten. Zum "Tag des Verteidigers des Vaterlandes" am 23. Februar wollen sie das Paket an die Front schicken. "Ich denke, unsere Jungs werden sich freuen. Und es ist ihnen wichtig, dass wir wissen, wie schwierig es für sie ist."

Natalja aus Samara an der Wolga denkt zwar auch, dass "die Heimat zu lieben und zu schützen" eine wichtige Aufgabe sei, bei aller Sympathie für Putin "wird es jedoch immer schwieriger, an das zu glauben, was der Präsident sagt", meint sie. "Ich habe Freunde, von denen einige Särge aus der Ukraine erhalten haben, andere verstecken ihre Söhne. Ich habe ständig Streit mit meinen Eltern, die Putins Position unterstützen. In der Provinz, in der ich lebe, sprechen die Leute selten direkt über den Präsidenten, ich denke, sie haben Angst." (Jo Angerer aus Moskau, 17.2.2023)