Als besonders wichtig erachtet Klimek die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und das Vertrauen auf zwischenmenschlicher Ebene.

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Wien – Eine inhaltliche Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen in Österreich sei notwendig, das müsse aber "tiefer gehen, als Lockdown-Tage zu zählen". Das sagte Komplexitätsforscher Peter Klimek im APA-Gespräch anlässlich des bevorstehenden dritten Jahrestags der ersten nachgewiesenen Sars-CoV-2-Fälle in Österreich.

Am 25. Februar 2020 waren in Innsbruck die ersten Sars-Cov-2-Fälle in Österreich bestätigt worden. Nach drei Jahren Pandemie sehen Expertinnen und Experten eine endemische Phase schon oder demnächst erreicht, und die Bundesregierung hat eine große Analyse ihrer Corona-Politik angekündigt. Aufgrund des Abflauens der Infektionslage läuft Niederösterreichs Corona-Testangebot "Niederösterreich gurgelt" mit 31. März aus. Tests in Apotheken sollen bis 30. Juni möglich sein. Zuvor wurde das Ende von "Alles gurgelt" in Wien mit 30. Juni verkündet.

Es dürfe angesichts der Aufarbeitung der Pandemie nicht erwartet werden, dass nun eindeutige Antworten in Richtung "Das war gut, das war schlecht" herauskommen, betonte Klimek. Aufarbeitungen und Auswertungen zu Corona-Maßnahmen würden in der Wissenschaft schon seit drei Jahren gemacht. "Wenn es da eine klare Antwort gäbe, hätte sich das schon herumgesprochen", sagte der Forscher vom Complexity Science Hub Vienna und der Med-Uni Wien.

"Schweizer-Käse-Modell"

"Es hat wenig Möglichkeiten gegeben, aus dieser Pandemie herauszukommen, ohne dass irgendwo Schaden entsteht", erläuterte der Forscher. Natürlich kann dieser Schaden "gewissermaßen reduziert werden", sagte er, und es können dabei Ziele – wie möglichst wenig Tote oder möglichst wenig Übersterblichkeit – definiert werden. Jede Maßnahme wie Masken, Tests, Abstand halten und so weiter sei für sich durchlässig wie ein löchriger Käse, sprach Klimek vom "Schweizer-Käse-Modell". Aber viele Maßnahmen übereinander geschichtet könnten "sehr wohl einen deutlichen Effekt herstellen". In Österreich sei jedoch in der zweiten Welle nur über das Contact-Tracing geredet worden, danach nur über das Testen und dann wiederum nur über Masken, kritisierte er.

Als sehr wichtigen Faktor erachtet Klimek die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und das Vertrauen auf zwischenmenschlicher Ebene. "Wenn ich das Vertrauen habe, dass sich mein Gegenüber vorsichtig verhält, verhalte ich mich auch vorsichtiger", erläuterte der Komplexitätsforscher.

In Schweden sei bei weniger strengen Maßnahmen eine ähnliche Mobilitätsreduktion wie in Österreich gemessen worden. "Vielleicht haben wir mehr Maßnahmen zur Kontaktreduktion gebraucht, weil wir auf der Ebene der Gesundheitskompetenz und beim zwischenmenschlichen Vertrauen Nachholbedarf haben", vermutet Klimek. Hinzu komme das laut Eurobarometer-Umfrage geringe Interesse an der Wissenschaft in Österreich. "Das sind alles kommunizierende Gefäße, die sich beeinflussen."

Impfung als "Gamechanger"

Weiters wurde in Österreich die 33-prozentige Auslastung der im internationalen Vergleich recht hohen Anzahl von insgesamt rund 2.000 verfügbaren Erwachsenen-Intensivbetten als Auslöser für einen Lockdown definiert. Dadurch habe man "spät zu bremsen begonnen". Das bedeute höhere Inzidenzen, bevor Maßnahmen einsetzen, und damit auch mehr schwere Verläufe und Tote und teils "extrem lange Lockdowns", um von dem hohen Niveau hinunter zu bremsen, resümierte Klimek.

Die gegenwärtige Situation stelle sich dank der Impfung als "Gamechanger", aufgrund breiterer Immunität in der Bevölkerung und weniger Intensivaufenthalten durch die Omikron-Variante anders dar. Corona habe keine besondere Rolle mehr für die Belastung des Gesundheitssystems und sei nun "ein zusätzlicher Stressfaktor" neben anderen Viruserkrankungen. "Konkret müssen wir uns darauf einstellen, dass es zu epidemischen Wellen von Corona kommen wird, im Winter wahrscheinlicher als im Sommer", warnte Klimek aber. Eine gemeinsame Überwachung mit anderen Atemwegsinfekten wie Influenza und RSV sei in Planung.

Netz mit Partnerkrankenhäusern

Auch Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) sprach sich im Interview mit dem "Kurier" für den Dialog mit der Gesellschaft zur Corona-Aufarbeitung aus. Man müsse dabei zwischen berechtigter Kritik und "militanten Corona-Leugnern" unterscheiden. Eine Versöhnung mit "militanten Leugnern" sieht Anschober als nicht realistisch. Menschen, die Fake News zum Opfer gefallen sind, seien schwer zu erreichen. Mit der größeren Gruppe, die einzelne Maßnahmen kritisiert, könne man aber reden. Dafür brauche es viele Initiativen in den Gemeinden, "mit Experten und Betroffenen am Tisch".

Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) ist gerade dabei, "eine möglichst digitalisierte, automatisierte Erfassung von Atemwegserkrankungen, die zu Hospitalisierungen führen, in Österreich aufzubauen", erläuterte Bernhard Benka, Leiter des Bereichs Öffentliche Gesundheit der Ages. Das passiere europaweit mit Unterstützung der EU-Seuchenbehörde ECDC und gehe weg von eine erregerabhängigen Überwachung hin zu einer Syndromüberwachung. Dafür werde ein Netz mit Partnerkrankenhäusern, die repräsentativ auf Österreich verteilt sind, aufgezogen. (APA, red, wisa, 17.2.2023)