Romane und Kurzgeschichten, Theaterstücke, Lyrik, Anthologien mit Texten verfolgter Autorinnen und Autoren und unzählige journalistischer Arbeiten: Jurij Wynnytschuk gilt als der vielseitigste unter den ukrainischen Schriftstellern. Seinen Status als lebende Legende der modernen ukrainischen Literatur verdankt der heute 70-Jährige nicht nur der anerkannten Qualität seiner Arbeit, sondern auch seinem Ruf als ewiger Dissident. Bis zum Ende der Sowjetunion hörte der Geheimdienst nicht auf, dem widerspenstigen Autor das Leben schwerzumachen. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine gilt Wynnytschuk als der bekannteste Vertreter der galizischen Literatur, der ironisch und provokant die Gesellschaft und Erinnerungskultur der Ukraine reflektiert.

Die Werke von Jurij Wynnytschuk wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Foto: Olena Kontsevych

STANDARD: Was ist die Aufgabe eines ukrainischen Schriftstellers in Kriegszeiten?

Wynnytschuk: Ich glaube, dass die wichtigste Aufgabe eines ukrainischen Schriftstellers derzeit darin besteht, genaue Informationen darüber zu liefern, was hier passiert. Seit Kriegsbeginn habe ich Literaturfestivals in Polen, Schottland und Rumänien besucht. Und überall, wo ich hinkam, habe ich versucht, jede einzelne Frage zum Krieg zu beantworten, die die Leute dort hatten. Ich habe auch mehrere Artikel als Antworten auf die Behauptung Putins und seiner Handlanger geschrieben, dass die Russen und die Ukrainer ein Volk seien, was wir nie waren.

STANDARD: In der Ukraine werden heute leidenschaftliche Debatten darüber geführt, wie mit russischen Staatsbürgerinnen und -bürgern unabhängig von ihrer politischen Haltung umgegangen werden soll. Gibt es sogenannte "gute Russen"? Und wenn ja, wie soll man mit ihnen umgehen angesichts der Verbrechen, die von den Streitkräften des Kreml in ihrem Namen begangen werden?

Wynnytschuk: Wir können nicht von jedem Russen verlangen, dass er Russlands Tod wünscht. Wie kann man das von jemandem verlangen, der gebürtiger Russe ist? Ich glaube, dass wir den Dialog mit den Russen führen sollen, die den Wahnsinn des Kreml nicht unterstützen. Leute wie der Komiker Maxim Galkin, die Sängerin Alla Pugatschowa oder der ehemalige Schachweltmeister Garry Kasparow. Das Problem ist freilich, dass alle diese Leute nicht in Russland leben. In Russland selbst sehen wir keine nennenswerten Proteste gegen den Krieg. Klar, manchmal beziehen einzelne Stellung, aber die werden sofort verhaftet, weil die meisten Russen den Krieg unterstützen.

STANDARD: Glaubt man den Umfragen in Russland, stimmt das – aber die gleichen Umfragen besagen, dass die Unterstützung für den Krieg dort stetig abnimmt.

Wynnytschuk: Der einzige Grund, warum die Unterstützung abnimmt, liegt nicht daran, dass die Russen ihre Meinung geändert haben, sondern weil sich ihr Leben verändert hat. Viele haben Verwandte, die gestorben sind, oder es fehlen ihnen plötzlich Waren, an deren Konsum sie sich gewöhnt hatten. Trotzdem wären sie rundum glücklich, wenn es Putin gelänge, die Ukraine zu annektieren. Die Realität ist, dass es in Russland mittlerweile ein gutes Geschäft ist, einen toten Soldaten in der Familie zu haben. Viele russische Familien trauern nicht, sondern freuen sich, wenn ihr Nachwuchs in der Ukraine stirbt, weil sie dann Autos und Geld bekommen. Ich selbst kenne unzählige solche Geschichten.

STANDARD: Ein Großteil Ihrer Arbeit spielt in Ihrer Heimatprovinz Galizien, insbesondere in der Hauptstadt Lwiw, die heute zu einem relativ sicheren Hafen für Flüchtlinge aus der Ostukraine geworden ist. Wie hat sich die Stadt seit dem 24. Februar 2022 verändert?

Wynnytschuk: Gravierend. Ich selbst habe mehrere wunderbare Menschen aus Dnipro aufgenommen, bevor sie weiter nach Großbritannien zogen. Aber seit Kriegsbeginn sind auch viele Leute in Galizien aufgetaucht, die ich Außerirdische nenne. Obdachlose und Alkoholiker, die keine Möglichkeit haben, in den Osten zurückzukehren, und heute einfach nur in Lwiw herumhängen. Entsprechend steigt die Zahl der Straftaten in der Stadt seit März 2022 stetig an. Natürlich sind nicht alle gleich. Aber während der Krieg einen großen Teil des Landes geeint hat, gibt es immer noch eine Minderheit von Ukrainern – fast alle aus dem Osten –, die behaupten, dass die Invasion ohne uns Galizier nie passiert wäre – und dementsprechend begegnen sie uns.

STANDARD: Können Sie das näher erklären?

Wynnytschuk: In der verzerrten Sichtweise dieser Leute waren es wir, die Janukowitsch 2014 gestürzt haben, und erst danach hat der Krieg begonnen. Es stimmt zwar, dass die meisten Kämpfer auf dem Maidan aus Galizien stammten, aber es ist eben nicht die ganze Wahrheit. Erst vor ein paar Tagen habe ich einem Gespräch zwischen zwei Flüchtlingsfrauen zugehört, die einander anstachelten und Dinge sagten wie: "Es ist schrecklich hier. Ich kann es nicht mehr ertragen, in ihre Bandera-Tiergesichter zu schauen." Ich habe auch viele Geschichten von einheimischen Männern gehört, die an der Front waren und deren Erzählungen den berührenden Videos widersprechen, die zeigen, wie die Leute in vormals besetzten Dörfern unsere Befreier empfangen. Während die einen überglücklich sind, fragen andere sie: "Warum seid ihr gekommen? Uns ging es gut ohne euch."

Wynnytschuk: "Ich glaube, dass wir den Dialog mit den Russen führen sollen, die den Wahnsinn des Kreml nicht unterstützen."

Diese Menschen sind von einem anderen Planeten. Natürlich nicht alle, aber eine beträchtliche Zahl. Wahrscheinlich 20 Prozent aller Ukrainer. Wir nennen sie "Sowoks" – Menschen mit sowjetischer Denkweise. Viele sagen uns das buchstäblich ins Gesicht: "Ihr schuldet uns etwas, weil ihr es wart, die den Krieg angefangen haben." Das sind auch die gleichen Leute, die Ärger im Ausland machen. Die meisten unserer Flüchtlinge versuchen einen Job zu bekommen, sobald sie in ein anderes Land kommen. Aber die meisten Leute aus der Ostukraine weigern sich zu arbeiten, weil sie glauben, dass sie ein Recht darauf haben, ausgehalten zu werden.

STANDARD: Was Putins Beweggründe für Russlands Invasion der gesamten Ukraine angeht, lautet eine populäre These, dass er versucht, die Sowjetunion wiederherzustellen. Teilen Sie diese Meinung?

Wynnytschuk: Ja. Das heutige Russland funktioniert ja nicht erst seit gestern genauso wie die Sowjetunion. Es gibt Zensur, die Menschen können nicht protestieren, und es gibt keine Streiks. Damals wie heute waren die gleichen Leute an der Macht – alte Männer, die seit Jahrzehnten auf ihren Stühlen kleben und dafür sorgen, dass sich nie etwas ändert und es jeden Tag nur noch schlimmer wird. Außerdem führte und schürte die Sowjetunion ständig überall auf der Welt Kriege, in Afghanistan, in Afrika und in Asien. Putin tut es in Syrien und manchen afrikanischen Ländern, in Georgien, in der Republik Moldau und in der Ukraine. Und das sind nur die offensichtlichsten Parallelen.

Wenn Putin diesen Krieg gewinnt, wird er sich nicht mit der Ukraine zufriedengeben. Er ist ein alter, kranker Mann, der der zweite Peter der Erste werden und alle sogenannten "russischen Länder" vereinen will. Sie müssen bedenken, dass diese "russischen Länder", von denen er spricht, Finnland, Teile Polens und das Baltikum umfassen. Wenn der Westen die Ukraine opfert, wird es deshalb um alle diese Länder schlecht stehen – und weil sie das wissen, handeln sie entsprechend.

STANDARD: Was erzählen Sie als ehemaliger UdSSR-Bürger, der die ersten vier Jahrzehnte seines Lebens in der Sowjet-Ukraine verbracht hat, Nachgeborenen darüber, wie das Leben damals war?

Wynnytschuk: Ich erzähle ihnen, dass das Leben aufgrund des ständigen Mangels an vielen Waren und Produkten schwierig war. Die meisten Menschen verbrachten ihr halbes Leben damit, darüber nachzudenken, wie sie bestimmte Dinge bekommen könnten. Sogar Grundnahrungsmittel waren oft knapp. Ich erzähle ihnen, dass der KGB alle sogenannten "fragwürdigen Personen" verfolgt hat – Leute wie mich. Seine Mitarbeiter durchsuchten meine Wohnungen, beschlagnahmten meine Bücher und Manuskripte, erfanden Beschwerden gegen mich und bedrohten mich. Ich habe eine philologische Ausbildung, aber zu Sowjetzeiten durfte ich nicht in meinem Fachgebiet arbeiten. Der KGB sorgte dafür, dass ich, sobald ich einen entsprechenden Job bekam, immer sofort gefeuert wurde.

Aber so schlimm die Sowjetunion auch war: Ich habe meine Jugend darin verbracht. Deshalb werde ich natürlich manchmal nostalgisch, wenn ich zurückdenke. Während das Leben im Allgemeinen scheiße war, gab es diese besonderen Momente, an die ich mich für immer erinnern werde. Bei einem polnischen Schmuggler eine Blue Jeans zu kaufen und dann der Polizei davonzulaufen, das sind unvergessliche Erlebnisse. Geschichten wie diese haben mir auch immer wieder Stoff für meine Arbeit geliefert.

STANDARD: Erklärt die Art von Nostalgie, die Sie da beschreiben – auch wenn Ihre Erfahrungen anders waren als die des durchschnittlichen Sowjetbürgers –, warum es im postsowjetischen Raum viele Menschen gibt, die die UdSSR zurückhaben wollen?

Wynnytschuk: Ja, aber der Schlüssel zum Verständnis dieser besonderen Nostalgie ist der: Diese Menschen sind nicht wirklich nostalgisch wegen des Systems, in dem sie damals lebten, auch wenn sie das vielleicht glauben. Sie sind nostalgisch, weil es um die Zeit geht, in der sie jung waren. Das ist es, was sie zurückhaben wollen.

STANDARD: Während seine Beliebtheit in der Ukraine vor Kriegsausbruch im Sinkflug begriffen war, ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj heute im In- wie im Ausland enorm populär. Was denken Sie über seine Führung?

Wynnytschuk: Im Prinzip macht er einen guten Job, und seine Botschaften treffen den Ton. Freilich: Wenn Selenskyj seine Appelle an den Westen richtet, tut er so, als gäbe es überhaupt keine gemeinsame Geschichte zwischen der Ukraine und Russland. Seine Redenschreiber achten extrem darauf, dass er nie unsere historischen Beziehungen zu Russland anschneidet, weil die manchmal ebenso kompliziert wie problematisch sind.

Selenskyj ist nur eine Sprechpuppe mit guten Redenschreibern, aber er erfüllt seine Rolle gut, also soll es sein.

STANDARD: Eine Sache, für die Sie auch im Westen bekannt sind, ist Ihre so beständige wie bissige Kritik an den Präsidenten Ihres Landes. Unter Viktor Janukowitsch waren Sie Repressalien ausgesetzt, weil Sie 2012 das Gedicht "Tötet den Schurken" veröffentlichten, dessen Zeilen zwei Jahre später zu einem der Schlachtrufe des Euromaidan wurden. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, ein Gedicht über Selenskyj zu schreiben? Und wie würde dessen Titel lauten?

Wynnytschuk: (lacht) Vor dem Krieg haben mich tatsächlich viele Leser darum gebeten, aber jetzt ergibt das keinen Sinn mehr. Sehen Sie, Selenskyj ist nur eine Sprechpuppe mit guten Redenschreibern, aber er erfüllt seine Rolle gut, also soll es sein. Ich hatte mich über ihn lustig gemacht, seit er sich entschieden hatte, für die Präsidentschaft zu kandidieren. Ich habe ihn früher "Baby Zaches" genannt, nach der Figur aus dem Kunstmärchen von E. T. A. Hoffmann. Zaches war ein böser, hässlicher Zwerg, aber er hatte dieses eine Haar, in dem seine ganze Macht wohnte – und erst als dieses Haar ausgerissen wurde, verschwand sie. Als Selenskyj während seiner Präsidentschaftskampagne gebeten wurde, seine Haare für einen Drogentest abzugeben, hat er sich lustigerweise geweigert, aber das nur nebenbei.

In gewisser Hinsicht ist er halt genauso schlimm wie seine Vorgänger. Es sollte eine Verfilmung meines Romans "Diven der Nacht" geben, aber als sein Kulturminister ins Amt kam, ließ er das Drehbuch sofort verschwinden. Das war seine Art, sich an mir für meine Kritik zu rächen. Während unter Janukowitsch meine Bücher von der Liste der öffentlichen Bibliothekseinkäufe gestrichen wurden, wurden unter Selenskyj meine Verfilmungen gestrichen.

Animiertes Video über Jurij Wynnytschuk auf YouTube.
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STANDARD: Während Selenskyj seit Beginn der Invasion unantastbar scheint, geraten in der Ukraine wie im Ausland manche seiner Berater für ihre kontroversen Äußerungen und die Verbreitung von Falschinformationen regelmäßig in die Kritik, wie der kürzlich entlassene PR-Spezialist Oleksij Arestowytsch und der Ex-Journalist Mychajlo Podoljak. Was sollen westliche Unterstützer der Ukraine davon halten?

Wynnytschuk: Viele der Leute, mit denen sich Selenskyj umgibt, sind in der Tat schrecklich. Die Wahrheit lautet, dass das Einzige, was sie vom Schlimmsten abhält, die Europäische Union ist. Deren Beamte beobachten ihre schmutzigen Finger heute Gott sei Dank ganz genau. Aber am Ende des Tages spielt keine dieser Figuren eine Rolle, so viele Follower sie auch in den sozialen Medien haben mögen. Der Einzige, der wirklich Macht in Kiew ausübt, ist Andrij Jermak (Anm.: ein ehemaliger Filmproduzent und heutiger Chef des Präsidentenbüros). Er ist die Pumpe, und Selenskyj ist sein Fahrrad. Es ist kein Geheimnis, dass nicht Selenskyj, sondern Jermak in allen Politikbereichen die Entscheidungen trifft. Und einige Journalisten schreiben auch darüber. Obwohl es derzeit, weil sich alles auf den Krieg konzentriert, keine Proteste oder Streiks gegen seine Politik gibt – zum Beispiel gegen die neuen Arbeitsgesetze –, bin ich davon überzeugt, dass es in Zukunft viele geben wird.

STANDARD: Eine Hypothese, warum der Kreml heute so handelt, wie er handelt, lautet, dass weder das zaristische noch das sowjetische Russland jemals für die unter diesen diktatorischen Regimen begangenen Verbrechen büßen, geschweige denn bezahlen mussten. Teilen Sie diese Meinung?

Wynnytschuk: Ja. Deshalb muss es nach Kriegsende auch einen Prozess in Den Haag geben, so wie es 1945 und 1946 einen in Nürnberg gab. Tatsache ist, dass allein Sowjet-Russland 90 Prozent aller ukrainischen Schriftsteller, Künstler und Musiker umgebracht hat. Aber wenn man sich die Völker ansieht, die heute für Russland kämpfen – Burjaten, Tuwiner, Tschetschenen und so weiter: Von deren kreativer Intelligenzija wurden hundert Prozent getötet. Deshalb können wir auch nicht mit Russland verhandeln oder irgendwelche Zugeständnisse machen, weil es sonst nie enden wird. Sie werden einfach immer weitermachen, so wie sie es seit Jahrhunderten ungestraft tun.

Der größte Fehler des Westens besteht darin, sie nicht schon viel früher konfrontiert zu haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte der US-Armeegeneral George Patton gegen die Sowjetarmee kämpfen, aber er wurde leider zurückgepfiffen. Wenn es Männern wie ihm damals erlaubt worden wäre, die Hydra zu zerstören, hätten wir nicht die Probleme, die wir heute haben, und die Welt wäre ein viel besserer Ort. Deshalb müssen wir diesmal bis zum Ende kämpfen, und dann müssen sie für alles bezahlen, was sie zerstört, für jedes einzelne Leben, das sie genommen haben, und für jedes ihrer Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, das sie begangen haben. (Klaus Stimeder, 19.2.2023)