Eine Million Tonnen Lebensmittel landen jährlich im Müll.

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Beim Blick in Mülltonnen, die mit genießbaren Kartoffeln, Äpfeln, Joghurts, Käse oder Semmeln gefüllt sind, vergeht einem schnell der Appetit. Über eine Million Tonnen vermeidbarer Lebensmittelabfälle landen in Österreich jährlich in der Tonne. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Universität für Bodenkultur Wien (Boku) im Auftrag der Umweltorganisation WWF. Davon machen Brot, Obst und Gemüse mehr als die Hälfte aus und liegen auf dem unrühmlichen ersten Platz, gefolgt von Milchprodukten, Käse und Eier.

Weltweit landen sogar 1,3 Milliarden Tonnen essbarer Lebensmittel jährlich im Müll. Rund 20 Prozent des vermeintlichen Abfalls entstehen während der Distribution und im Einzelhandel. Um diese Zahl zu reduzieren, arbeiten nun Forschende des Fraunhofer Austria Research, WU Wien und TU Wien mit den Supermärkten Spar, Metro, Kastner Großhandelsgesellschaft und den Unternehmen IT-Power Services sowie Invenium Data Insights im Forschungsprojekt "Appetite" zusammen.

Das erklärte Ziel: Lebensmittelverschwendung im österreichischen Handel bis 2030 um zehn Prozent durch präventive Maßnahmen reduzieren. Bisherige Initiativen setzen an, kurz bevor die Lebensmittel verderben, Appetite hingegen wolle die Vorhersage der Absätze verderblicher Lebensmittel verbessern, erklärt Alexandra Birkmaier von Fraunhofer Austria Research im Gespräch mit dem STANDARD.

Entstehen soll der Prototyp einer KI-basierten Prognoseplattform, die mithilfe eines Dashboards den Lebensmittelbedarf in nahezu Echtzeit überwacht und so transparenter macht. Gefördert wird das Projekt, das insgesamt drei Jahre bis 2025 laufen soll, von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG.

KI erstellt Prognosen

Im vergangenen ersten Projektjahr haben die Forschenden eine große Menge Daten erhoben. Angefangen von Bestellmengen und Mindesthaltbarkeitsdaten über Rabattaktionen in den Supermärkten bis hin zu Ferienzeiten, Wetterprognosen und Personenbewegungen anhand von Mobilfunkdaten. So konnte laut Birkmaier herausgefunden werden, wie viele Personen sich zu welchen Zeitpunkt in welcher Region aufhalten. In weiterer Folge sollen nun geeignete Prognosemethoden für Verkäufe verderblicher Lebensmittel in den Supermärkten gefunden werden.

Birkmaier nennt ein Beispiel: Kündigt sich etwa eine Schönwetterwoche an, fahren mehr Menschen von Wien in Richtung Süden und Nordwesten, etwa an den Wörthersee nach Kärnten. Dadurch verändert sich die Nachfrage in den Supermärkten. In Wien könnten weniger, am Wörthersee dafür mehr Wassermelonen verkauft werden. Die Auswertung der Daten wird es zeigen. Eine konkrete Hypothese im Forschungsprojekt lautet, dass Menschen an Sommertagen vermehrt zu Obst, Gemüse greifen oder Grillwürstel und Maiskolben greifen.

Diese Hypothesen gilt es nun im zweiten Forschungsjahr zu testen. Dafür arbeitet die TU Wien als einer der Forschungspartner verstärkt an KI-basierten Prognosemodellen. Es gilt herauszufinden, welche Methoden am besten zu den jeweiligen Lebensmitteln passen – etwa zu Obst oder Milch.

Algorithmus kombiniert Daten

Ein Modell, das als Basis für künstliche Intelligenz dient, sind etwa neuronale Netzwerke. Dabei wird das Netzwerk mit den erhobenen Daten gefüttert – sprich die bereits genannten unternehmensinternen Erhebungen in den Supermärkten, Wetter- sowie Bewegungsdaten kombiniert. Der Algorithmus versucht in diesen Daten Abhängigkeiten und Zusammenhänge zu erkennen.

Im Gegensatz zu bisher verwendeten statistischen Berechnungen kann die KI Muster in vielfältigen und komplexen Datenmengen erkennen. Auch neu hinzukommende Daten, etwa die Nachfrage nach saisonalem Gemüse wie Spargel oder Lebensmitteltrends wie Bio-Produkte, lassen sich effizient einordnen.

Vergossene Milch

Währenddessen fokussiert sich Gerald Reiner mit seinem Team auf Überbestände von Lebensmitteln aufgrund ungenauer Absatzprognosen, klassischer Bestellpolitiken und Annahmen über das Verhalten der Kundinnen und Kunden. Er leitet das Institut für Produktionsmanagement an der WU Wien ist am Projekt Appetite beteiligt.

Aktuell wissen die einzelnen Märkte laut Reiner nicht automatisch, wie alt die Ware ist, die im Kühlregal steht. Sprich, welche und wie viele Milchpackungen drei, vier oder sechs Tage lang haltbar sind.

Diese Information sei aber essenziell, um Bestellungen genauer berechnen zu können. Um hier innovative Bestellpolitiken zu betreiben, könnte laut Reiner der klassische Barcode (EAN) erweitert oder ein QR-Code auf die Milchpackungen gedruckt werden. Letzterer kann viele individuelle Infos erfassen – darunter auch das Mindesthaltbarkeitsdatum.

Technisch wäre es kein Problem, ist Reiner überzeugt. Der Lebensmittelhandel müsste dafür mit den Produzenten und Lieferantinnen kooperieren, die Verpackungen bedrucken. Derartige Ideen könnten in den nächsten Monaten in den Supermärkten getestet werden. (Julia Beirer, 24.2.2023)