Je länger eine Katastrophe zurückliegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man noch Überlebende findet. Das kann aber gelingen, etwa wenn Menschen in Hohlräumen eingeschlossen sind und genügend Sauerstoff und auch Flüssigkeit verfügbar sind.

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72 Stunden – das ist die Zeitspanne nach einer Katastrophe wie dem Erdbeben in der Türkei, in der die Überlebenschancen relativ hoch sind. Bergungen von Überlebenden, die erst (wesentlich) später erfolgen, werden von den Medien dann oft als Wunder tituliert. So weit würde David Wran-Schumer von der Abteilung für Katastrophenschutz beim Roten Kreuz nicht gehen: "Es werden bei quasi allen Erdbeben auch nach dieser Frist von 72 Stunden noch Überlebende geborgen. Aber die Wahrscheinlichkeit nimmt dann immer rascher ab."

Generelle Aussagen darüber, ob es noch Überlebende geben kann oder warum jemand überlebt, kann man nicht treffen, zu viele unterschiedliche Faktoren spielen da zusammen. Zuallererst hängt es sehr stark von der physischen Verfasstheit der verschütteten Personen ab und davon, wie sie eingeschlossen sind. Wran-Schumer erklärt: "In den Trümmern gibt es oft Hohlräume, Verschüttete müssen nicht zwangsläufig eingequetscht sein. Die Sauerstoffversorgung muss auch gewährleistet sein. Gibt es dann noch Zugang zu Wasser und womöglich Nahrung, steigen die Chancen." Auch Kälte kann ein Faktor sein. Normalerweise ist diese ein Problem, doch es kann vorkommen, dass sich der Stoffwechsel dadurch in einer Weise verlangsamt, dass ein längeres Überleben möglich ist.

Richtige Versorgung

Wie hoch die Überlebenschancen nach so einer späten Bergung sind, hängt wiederum von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Liegen außer der körperlichen Schwächung keine oder nur sehr leichte Verletzungen vor, ist die Prognose eine gute. Bei schwereren Verletzungen, vor allem, wenn Körperteile eingeklemmt waren, können in Folge der Bergung sekundäre Probleme auftreten, weiß Wran-Schumer: "Wenn große Muskelgruppen länger eingeklemmt sind, entstehen durch den Muskelzerfall, der dadurch passiert, giftige Zerfallsprodukte, die zu Nierenversagen oder Leberschädigung führen können."

Dieses Crush-Syndrom, wie der Fachausdruck lautet, tritt in der Regel erst nach der Dekompression aus, also wenn die Gliedmaßen befreit wurde. Theoretisch kann man das deshalb mit einer Amputation verhindern. Aber auch hier ist die medizinische Entscheidung individuell und hängt etwa davon ab, wie stark die eingeschlossene Extremität bereits beschädigt ist.

Ein Generalisieren ist also schwierig bis unmöglich, sagt Wran-Schumer. Und je länger es bis zur Bergung dauert, desto wichtiger ist ein medizinisches Assessment über die beste Vorgangsweise schon vor der Bergung. "Man kann weder positiv noch negativ pauschale Aussagen treffen, der menschliche Körper ist da für einige Überraschungen gut. Und es ist tatsächlich immer wieder ein Wunder, was Menschen in so einer Extremsituation aushalten."

Österreichische Expertise

Damit im Ernstfall überhaupt schnelle Hilfe organisiert werden kann, existiert der internationale virtuelle Kontrollraum für Naturkatastrophen "Aristotle". Maßgeblich am Aufbau dieses Krisensystems beteiligt war Geosphere Austria – ehemals Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik. Im Zentrum des Dienstes stehen Ereignisse wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Überschwemmungen und Extremwetter.

Das Europäische Krisenkoordinationszentrum erhält im Katastrophenfall durch Aristotle eine Einschätzung der Lage und möglicher Entwicklungsszenarien. Diese Informationen erleichtern es abzuschätzen, in welchem Ausmaß internationale Hilfskräfte mobilisiert werden müssen. Fachlich fundierte Beurteilungen gibt es etwa in der Frage, mit welchem Schweregrad an Schäden zu rechnen ist. Im Rahmen des europäischen Zivilschutzmechanismus wird dann die entsprechende Katastrophenhilfe mit den beteiligten Nationen koordiniert.

Das war auch bei dem verheerenden Beben in der Türkei und in Syrien der Fall. "Wir haben innerhalb von drei Stunden einen Report geschickt, aber es war sofort klar, dass es sich um ein außergewöhnliches und besonders starkes Ereignis handelt", erklärt Gerhard Wotawa von Geosphere Austria, der das System federführend mitentwickelt hat.

In den vergangenen Jahren hat sich die Kooperation im europäischen Zivilschutzmechanismus intensiviert, zudem wurden große Investitionen in diesem Bereich getätigt. Zu den beteiligten Nationen zählen überdies auch Länder, die nicht in der Europäischen Union sind, etwa Großbritannien oder die Türkei selbst. Beide Staaten sind auch an Aristotle beteiligt. "Das System hat in diesem Fall gut funktioniert und dazu geführt, dass sehr rasch Hilfe im Gebiet angekommen ist", sagt Wotawa. (kru, mare, 17.2.2023)