Michail Chodorkowski nimmt sein Schicksal immer wieder mit Galgenhumor. Er lacht wenn er darüber spricht wie schrecklich die Haftbedingungen sind. Er lacht, wenn der Westen seiner Ansicht nach dem naiven Glauben verfällt, die Oligarchen hätten irgendeinen Einfluss auf Putin und nicht andersherum. Das Interview in den Räumlichkeiten des Münchner Europaverlags, bei dem er sein neues Buch "Wie man einen Drachen tötet" verfasst hat, findet mit einem Übersetzer statt. Nur ab und zu rückversichert er sich bei wenigen Worten, ob er Fragen wohl richtig verstanden habe. Der berühmteste lebende Exil-Kreml-Kritiker hat gelernt, manchmal lieber auf Nummer sicher zu gehen. Sein Buch versteht er als Handbuch für angehende Revolutionäre.

STANDARD: Wir haben zuletzt mehrere Friedensaufrufe von selbsternannten Friedensaktivisten für den Ukraine-Krieg gehört. Sie alle versuchen aber nicht einmal zu erklären, wie dieser Frieden aussehen könnte. Es sieht auch sicherlich nicht so aus, als wäre Putin bereit nachzugeben, geschweige denn, sich aus der Ukraine zurückzuziehen. Sie haben einmal gesagt, dass man Druck auf Putin ausüben müsse, um etwas aus ihm herauszuholen. Was bedeutet das für den Krieg?

Chodorkowski: Derzeit sehe ich kein realisierbares Szenario, in dem der Krieg sofort eingestellt werden könnte, ohne dass sich die Ukraine in einer schlechteren Position wiederfindet, als sie jetzt ist. Und ich sehe kein Szenario, in dem Putin den Krieg nicht sofort wieder aufnehmen würde. Er hat in Russland eine Situation geschaffen, in der seine wichtigste Stütze die Nationalpatrioten sind. Sie haben aus vielen Gründen – darunter pragmatische – ein Interesse, Krieg zu führen. Putin kann darüber hinaus seine Unterstützung in der Bevölkerung nicht mehr ausbauen, indem er ihre Lebensqualität verbessert – auch wegen der Sanktionen.

Jener Teil der Ukraine, der bereits erobert wurde, ist kein Vorteil, sondern viel eher eine Belastung. Und Putin hat die Angewohnheit, drohende Probleme bei Wahlen zu lösen, indem er Kriege anzettelt. Er hat das mit Tschetschenien, Georgien und der Krim getan. Und jetzt macht er es ein viertes Mal mit der ganzen Ukraine. Dieser Modus Operandi bleibt, und man muss wohl mit einem fünften Mal rechnen.

Würde die Ukraine einer Beendigung des Krieges unter den aktuellen Gebietsverlusten zustimmen, wären 87 Prozent der ukrainischen Bevölkerung dagegen. Es würde zu einem zivilen Aufstand kommen. Auch wenn er auf dem besetzten Gebiet bis zu 300.000 Personen für den Krieg rekrutieren könnte, deren Leben bedeuten nichts für Putin. Ich sehe aktuell einfach keinen Raum für irgendwelche Friedensverhandlungen. Vielleicht jemand anderer, ich nicht.

STANDARD: Was ist, wenn Putin diesen Krieg verliert? Und was gilt in Russland als Niederlage?

Chodorkowski: Putin könnte jeden Kriegsausgang als Sieg verkaufen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich habe lange in Sibirien gelebt und kenne dort immer noch Leute, die den Krieg unterstützten. Ich frage sie: "Warum?" Und sie sagen dann: "Wenn uns Putin nicht beschützt hätte, würden sie uns gerade in Sibirien bombardieren."

STANDARD: Mit "sie" meinen die Menschen die Ukrainer oder die Nato?

Chodorkowski: In Russland wird davon ausgegangen, dass wir uns mit der Nato im Krieg befinden, nicht mit der Ukraine.

Die Zeit, in der er einen Sieg in der Ukraine verkaufen kann, neigt sich aber dem Ende zu. Würde es zu einem Verhandlungsfrieden kommen, würden die Nationalpatrioten die Situation binnen eines Jahres wieder aufflammen lassen.

STANDARD: Aber ab wann könnte es problematisch für Putin werden?

Chodorkowski: Wenn eine Waffenstillstandslinie hinter jene vor dem 24. Februar 2022 rückt oder Russland die Kontrolle über die Krim verliert, wäre das eine glasklare Niederlage. Aber selbst wenn es an der aktuellen Kontaktlinie zu einem Waffenstillstand kommt, würde er binnen eines Jahres einen neuen Krieg starten.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Wie man einen Drachen tötet", geben Sie eine knappe Anleitung, wie das System Putin überwunden werden könnte. Sie schlagen eine föderale parlamentarische Republik vor. Wie stehen die Chancen, dass es funktioniert, und was sind Ihrer Meinung nach die größten Hindernisse?

Chodorkowski: Als Realisten müssen wir davon ausgehen, dass ihm zu 70 Prozent jemand nachfolgt. Geschähe dies heute, wäre es wohl Ministerpräsident Michail Mischustin, vielleicht ein anderer. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass diese Person in der Lage wäre, sich ähnlich an der Macht zu halten wie Putin. Putins Macht ist hochgradig personalisiert. Er ist nicht ideologisch. Er hat kein Team um sich. In seinem inneren Kreis hält sich Putin an der Macht, indem er alle gegeneinander ausspielt. Das im Gleichgewicht zu halten, schafft wohl kein anderer. Verschiedene Kräfte würden sich also anschicken die Situation zu destabilisieren.

Auf der Sicherheitskonferenz stellte Chodorkowski sein Konzept für ein Russland nach Putin vor.
Foto: APA/AFP/Odd Andersen

STANDARD: Welche wären das?

Chodorkowski: Ich sehe drei Möglichkeiten: die Desintegration Russlands, ein neuer "guter" Zar oder die parlamentarische Republik. Letztere hat eine Chance von 30 Prozent würde ich sagen, aber ich arbeite dafür, dass es möglich wird. Variante eins, die auch durch eine Militärjunta ausgelöst werden könnte, würde schlecht enden. Ein Resultat könnte ein Nuklearwaffeneinsatz sein. Das mit dem "guten Diktator" geht nicht gut aus. Ich sah das mit Boris Jelzin, der noch 1990 ein wunderbarer Demokrat war, aber schon 1993 das Parlament auflöste. 1999 musste er Leute nach Pristina schicken, um zu zeigen, dass er die russische Bevölkerung schützt. Auf dieser Grundlage, dem Schutz vor externen Feinden, wurde Russland überhaupt erst gegründet. Damit wird auch die starke Zentralisierung des Staates begründet. Sogar jeder "gute" Zar muss also entweder Macht abgeben – wie Michail Gorbatschow – oder ein Feindbild schaffen. Die einzige Alternative ist die föderale, teils konföderierte parlamentarische Demokratie, die ich im Buch beschreibe.

STANDARD: Apropos Nachfolger: Was hat eigentlich den Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew so radikalisiert?

Chodorkowski: Es gab Menschen, die die Idee unterstützten, dass Medwedew nach seiner ersten Amtszeit Präsident bleibt. Sie sind heute für Jahrzehnte eingesperrt. Ihr Vermögen wurde konfisziert. Uns allen ist klar: Medwedew hat einfach Angst und er tut alles, um seine Loyalität zu beweisen. Das ist nicht leicht für ihn, deshalb trinkt er.

STANDARD: Alexej Nawalny entschied sich, nach Russland zurückzukehren, im Wissen, dass er inhaftiert werden würde. Sie waren zehn Jahre im Gefängnis und würden ziemlich sicher wieder eingesperrt werden, wenn Sie nach Russland zurückkehren. Was halten Sie von Nawalnys Entscheidung? Was ist der wirksamere Weg der Opposition eine Stimme zu geben?

Chodorkowski: Nach meiner Freilassung war mir klar, dass ich im Rampenlicht bleiben muss, um zu überleben. Die ersten zwei Jahre war das recht leicht. Nachher wurde es schwierig. Nach jedem veröffentlichten Artikel über mich wanderte ich in eine Strafzelle, ein äußerst unangenehmer Ort. Aber Aufmerksamkeit zieht eben weiter. Und wenn sie wirklich wollten, hätten sie mich ganz zum Schweigen bringen können – dann hätten sie halt ein paar weitere Gesetze brechen müssen.

Zurück zu Nawalny: Wenn Putin in den nächsten paar Jahren die Macht verliert, wird sich seine riskante Entscheidung politisch ausgezahlt und Sinn gehabt haben. Bleibt Putin länger an der Macht, wäre er wohl lieber im Ausland geblieben.

STANDARD: Weil Aufmerksamkeit und Unterstützung schwinden?

Chodorkowski: Ja. Im Vergleich zu dem, was er im Ausland hätte erreichen können. Er hat gezockt. Er gewinnt vielleicht. Vielleicht verliert er seine Wette aber auch. Das kommt weder auf ihn noch auf uns an. Was wir aber tun können, und was ich mache, ist seinen Status als politischen Gefangenen zu thematisieren, zu politisieren, damit sie ihn nicht einfach in der Zelle umbringen. Tun sie es doch, müssen wir dafür sorgen, dass es sie möglichst teuer zu stehen kommt. Mehr können wir nicht tun.

STANDARD: Sie werden diese Hochrisikowette nicht mehr eingehen?

Chodorkowski: Mein Verhältnis zu Putin ist leider nochmals auf einem ganz anderen Level. Mir wurde ganz offiziell mitgeteilt, dass ich im Falle einer Rückkehr lebenslang eingesperrt werde. In Russland lebenslang zu bekommen, das sind nochmal andere Haftbedingungen als sie Nawalny ertragen muss. Dein Körper lebt noch, aber eigentlich bist du tot – kein Kontakt zur Außenwelt.

Zehn Jahre und zwei Monate war Chodorkowski inhaftiert. Solange Putin an der Macht ist, wird er nicht nach Russland zurückkehren.
Foto: AP Photo/Misha Japaridze

STANDARD: Die österreichische Politik und österreichische Unternehmen im Banken- und Energiesektor pflegten in den letzten 20, 30 Jahren enge Beziehungen zum Kreml. Selbst jetzt, werden mit dem Argument der Neutralität diese Verbindungen zu Moskau nicht komplett gekappt. Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Österreich und Russland?

Chodorkowski: Ich werde Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass ich die österreichische Politik nicht regelmäßig verfolge. Was ich aber gesichert sagen kann: Putins Einfluss auf Österreich ist riesig, das zeigen Ergebnisse meines Dossier Centers, das Putins illegalen Einfluss auf andere Staaten untersucht. Als der bulgarische Bellingcat-Journalist Christo Grozew Wien kürzlich wegen Sicherheitsbedenken verließ, tat er dies nicht zum Spaß. Sein Leben war in Gefahr. Bedenkt man die Zahl professioneller Auftragsmörder im "Schlafmodus", ist es für Putin ungleich leichter, jemanden in Österreich umzubringen als in anderen europäischen Staaten.

Ich weiß nicht, inwieweit Österreich eine Rolle wie zur Zeit des Kalten Krieges einnehmen will, als Wien, sagen wir mal: "ein Zentrum der Interaktion zwischen Nachrichtendiensten" war. Als man der Ort war, an dem Sanktionen und Ausfuhrkontrollen in die Sowjetunion umgangen wurden. Denn angesichts der heutigen Integration Europas bin ich mir nicht sicher, wie glücklich andere europäische Länder wären, wenn Österreich diese Rolle spielen würde.

Karin Kneissl tanzte mit Putin auf ihrer Hochzeit, machte einen Knicks. Chodorkowski erinnert sich an den Moment, nicht aber an den Namen der ehemaligen Außenministerin.
Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR

STANDARD: Es gibt durchaus Kritik an den anhaltenden Geschäftsbeziehungen manch österreichischer Firmen.

Chodorkowski: Wenn Sie jetzt schon wenig erfreut sind, warten Sie mal, bis es ein paar politische Morde gibt, deren Auftragskiller alle in Österreich lebten. Wie ich das sehe: Trotz aller Vorteile, die gute Beziehungen zum Putin-Regime mit sich bringen, glaube ich nicht, dass Österreich große Anstrengungen unternehmen wird, diese zu entwickeln. Die Risiken sind zu hoch. Wie heißt die Frau aus Ihrer Regierung, die mit Putin auf ihrer Hochzeit tanzte, wo die Bilder um die Welt gingen?

STANDARD: Karin Kneissl.

Chodorkowski: Schaut man sich an, was Putin derzeit aufführt, ist sie wohl nicht so glücklich darüber, dass diese Bilder um die Welt gingen.

STANDARD: Da bin ich mir nicht so sicher. Andere Frage: Wie groß ist der Einfluss Putins auf die Vermögen russischer Oligarchen wirklich?

Chodorkowski: Damals, als die individuellen Sanktionen des Westens präsentiert wurden, glaubte man, dass die unter Druck gesetzten Oligarchen Druck auf Putin ausüben würden. Darüber musste ich sehr lachen. Es gibt keine Oligarchen in einer Diktatur. Sie sind Agenten Putins. Sie aber haben wiederum viele Agenten, mit großen Geldmitteln im Westen. Der Einfluss Putins auf sie ist recht leicht messbar. Man fordert sie einfach auf Putins Aggression zu verurteilen und sich von ihm zu distanzieren, dann können sie ihre Milliarden behalten und ausgeben. Niemand hat es getan. Das ist sein Einfluss.

STANDARD: Russland sponsert Desinformationskampagnen und oftmals rechte Parteien. Was passiert da?

Chodorkowski: Wir untersuchen das. Es ist wahrlich nicht leicht. Aber Putin unterstützt Radikale, egal welcher Natur. Es geht ihm um Destabilisierung. Dann kann er sich als derjenige positionieren, der die instabile Lage managt. Geht der Krieg weiter, wird er versuchen, den Balkan zu destabilisieren, um das Leben der Europäer schwieriger zu machen.

STANDARD: Via Serbien?

Chodorkowski: Absolut. Zum Glück sind die Russen aber Idioten. Sie hatten es in Montenegro versucht und das Land weiter von ihnen weggedrängt, sie haben Einfluss verloren. Aber man kann nicht immer darauf zählen, dass sie immer Idioten sind. Nach den Sanktionen wurde der Einfluss aber geringer, etwa in Deutschland. Aber Rechtsradikale sind natürliche Partner Putins. Das weiß er. Und weil die Wähler dieser Radikal-Rechten Putin normalerweise unterstützen, verlieren sie nicht mal an Unterstützung, wenn Putin beispielsweise Krieg führt. Das sollte man aufmerksam beobachten. (Fabian Sommavilla, 19.2.2023)