Dmytro Lubinets hat die Nase voll – und er will sichergehen, dass der Rest der Welt genau weiß, warum. Vor laufender Kamera zerschneidet der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments seinen Mitgliedsausweis des European Ombudsman Institute (EOI). Er teilt das Video in sozialen Netzwerken und nennt den Anstoß seines Ärgers beim Namen. Der ehemalige Generalsekretär und Geschäftsführer des EOI, ein Tiroler Landesbediensteter, habe zwei ukrainische Teenager von Tirol nach Russland gebracht. Die Organisation habe darauf nicht reagiert, seine Fragen nicht beantwortet.

Das Posting sorgt für internationalen medialen Niederschlag – nachdem hierzulande schon im Jänner über die Aktion berichtet wurde, als erstes in der Tiroler Tageszeitung. Der Beamte müsse "wegen Beihilfe zur Kindesentführung verhaftet werden", fordert Lubinets in einem Interview mit dem Onlinemedium "New Voice of Ukraine". Politisch brisant: Der Mann, den Lubinets hinter Gittern sehen will, arbeitet im Hauptberuf als Stellvertreter der Tiroler Volksanwältin. Das EOI fällt zudem in den Zuständigkeitsbereich des Tiroler Landtags.

Abholung im Alleingang

Was war passiert? Sonntag, 8. Jänner 2023: Besagter Beamter S. holt zwei ukrainische Teenager, ein 17-jähriges Mädchen und einen 16-jährigen Jungen, aus ihrer Tiroler Unterkunft ab, um sie nach Moskau zu bringen. S. zeigt dem Personal russische Dokumente. Er sagt, er habe sich mit Tatjana Moskalkowa abgesprochen, der Menschenrechts-Kommissarin der Russischen Föderation. Moskalkowa sitzt im Vorstand des EOI. Auch eine Vollmacht der Mütter soll er dabeigehabt haben. Wenige Tage später sind die Jugendlichen mit ihren Müttern im russischen Staatsfernsehen zu sehen. In ihrer Mitte posiert Moskalkowa, die sich bewegt über die "Rückkehr" der "nach Österreich geschmuggelten" Teenager zeigt. Es sei russischen Diplomaten und dem Nachrichtendienst FSB zu verdanken, dass die Kinder von Tirol nach Moskau kamen. Ob die Minderjährigen das wollten und wo sie heute sind, weiß niemand.

Die russische Ombudsfrau für Menschenrechte posiert mit den beiden ukrainischen Teenagern, die der Tiroler Beamte offenbar im Alleingang und ohne Wissen der Behörden nach Moskau gebracht hat, und deren Müttern.
Foto: Screenshot FAN TV

Die Kreml-affinen Ombudsleute

Fest steht indes, dass im erweiterten EOI-Vorstand bis heute auffällig viele Russen sitzen, von denen Moskalkowa nur die prominenteste ist. Im Westen wurde sie vor zehn Jahren durch ihre Attacken auf die Punkband Pussy Riot bekannt, deren Aktionen sie als "Angriff auf die Moral" empfand, dem man mit Gesetzesverschärfungen begegnen müsse. Zuletzt schien der Name der 67-jährigen Polizeigenerälin außer Dienst in der sogenannten "Nawalny-Liste" auf. Diese enthält rund 6.000 Namen von mutmaßlich korrupten Amtsträgern, die Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ermöglicht haben und aktiv unterstützen. Moskalkowa soll S. die Dokumente geschickt haben, die er bei der Abholung der beiden aus Luhansk stammenden Jugendlichen vorlegte.

Lob und Rüge aus den Vorstandsreihen

Um zu erfahren, wer beim EOI außer Moskalkowa noch von der Moskau-Mission des Generalsekretärs wusste, kontaktiert der STANDARD alle auf der Website aufscheinenden Vorstandsmitglieder per E-Mail und telefonisch. Wie der inzwischen suspendierte Beamte hüllt sich die Mehrheit von ihnen in Schweigen. Der Innsbrucker Rechtsanwalt, der als Rechnungsprüfer beim EOI fungiert und einem persönlichen Treffen zunächst zustimmte, ist plötzlich nicht mehr erreichbar. Er habe "die Anweisung bekommen, nicht mehr mit Ihnen zu sprechen", informiert seine Sekretärin den STANDARD. Von wem diese Anweisung kam, sagt sie nicht.

Acht EOI-Vorstandsmitglieder meldeten sich auf die Anfragen. "Hochgradig unangenehm", kommentiert Klaus Feurstein, Landesvolksanwalt von Vorarlberg, die Angelegenheit. Die Aktion müsse so schnell wie möglich aufgeklärt werden. Als "lobenswerte Erfüllung einer humanitären Mission" bezeichnet indes EOI-Vorstandsmitglied Alexander Sungurow, Professor für Strategische Politische Studien an der Universität St. Petersburg die Moskaureise des Landesbediensteten. "Ich kenne und schätze ihn seit Jahren. Als ihm Moskalkowa erklärt hat, worum es geht, hat er das sofort verstanden. Auch wenn er sich bei der Aktion vielleicht nicht an die Regeln gehalten hat, aber das spielt keine Rolle."

Der dubiose EOI- Präsident

Renate Weber, die im EOI-Vorstand die Bürgeranwaltschaft Rumäniens repräsentiert, traf S. nach eigenen Angaben unmittelbar nach seinem Russland-Ausflug in Istanbul. Obwohl er gemeinsam mit Moskalkowa angereist war, verlor er dort kein Wort über seine Aktion – weder gegenüber ihr, noch gegenüber des ebenfalls anwesenden ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Lubinets. Was manche ehemalige wie noch aktive EOI-Vorstandsmitglieder hinter vorgehaltener Hand darüber spekulieren lässt, ob auch der seit 2018 amtierende EOI-Präsident Dragan Milkow in die Aktion eingeweiht war.

Nachdem Lubinets diesen zuvor wochenlang nicht erreichte, erklärte ihm Milkow jüngst per Mail dass sein Generalsekretär "nicht im Namen des EOI" gehandelt habe. Der Serbe war bis vor kurzem Ratspräsident der juristischen Fakultät der Universität Novi Sad. Laut serbischen Medienberichten verdankte er diesen Posten, den er im Sommer vergangenen Jahres antrat, allerdings nicht seinen akademischen Qualifikationen, sondern seinem guten Draht zur SNS, der Partei von Präsident Aleksandar Vučić. Die pflegt traditionell gute Beziehungen zu Russland. Genutzt hat ihm das zuletzt offenbar wenig. Ende Jänner verlor Milkow wegen "skrupelloser und unordentlicher Arbeit" seinen Job. Auch Serbiens Agentur für Korruptionsprävention hat Milkow seit Jahren im Visier, weil er als Besitzer einer Obst exportierenden Firma gleichzeitig als Aufsichtsratsmitglied der zentraleuropäischen Freihandelszone CEFTA dient. Auch Milkow ließ alle Anfragen des STANDARD bis zuletzt unbeantwortet.

Der russophile Generalsekretär

Von Milkows Problemen wusste keiner der EOI-Vorstände, mit denen der STANDARD sprach. Einzig der Niederländer Simon Matthijssen, ein renommierter Menschenrechtsexperten, der dem EOI als externer Berater dient, zeigt sich mit den einschlägigen serbischen Medienberichten vertraut. Matthijssen berichtet außerdem von Spannungen innerhalb des EOI, deren Ursache in der offenbar ausgeprägten Russland-Sympathie des Tiroler Beamten liegen würden, mit denen auch der Präsident kein Problem gehabt haben soll.

Ein Beleg dafür: Ein von S. Mitte März 2022 an alle EOI-Vorstandsmitglieder verschicktes mehrseitiges Schreiben, in dem er Lyudmila Denisowa, die damalige Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, unter anderem des "politischen Aktionismus" bezichtigte. Wiewohl die Arbeit Denisowas auch in der Ukraine als umstritten galt – was Ende Mai zu ihrer Ablöse durch Lubinets führte – schrieb S. keine drei Wochen nach dem Start des russischen Angriffskriegs: "Frau Denisowa wird mir als Generalsekretär nicht vorschreiben, welche Personen ich in Bezug auf Menschenrechte treffen darf oder nicht, oder treffen kann (…) Jederzeit würde ich daher auch Frau OM Moskalkowa und andere treffen, da sie sich nie politisch geäußert oder danach gehandelt haben."

Auch des Beamten öffentlich einsehbarer Twitter-Account zeugt von dessen Russophilie. Nur wenige, in bisweilen bizarr holprigem Englisch verfasste Kommentare widmen sich dem Thema Menschenrechte. Was die – in der Regel mit wohlwollenden Wortspenden versehenen – Zahl der Retweets angeht, führt mit Abstand die russische Botschaft in Wien, gefolgt von einem halben Dutzend anderer Accounts russischer Regierungsinstitutionen. Bis zum Beginn der russischen Invasion der Ukraine verbreitete der Beamte regelmäßig überbordendes Lob für Außenminister Sergej Lawrov ("Viele Menschen denken wie Sie") wie Kritik an der Nato ("Ein großer Unruhestifter") und am ukrainischen Ex-Präsidenten Petro Poroschenko.

Des Beamtens Twitter-Feed lässt mutmaßen: S. durfte besonders an der ehemaligen Außenministerin Karin Kneissl Gefallen gefunden haben.
Foto: Roland Schlager/APA

Ab 2017 fand S. besonderen Gefallen am pointiert Russland-freundlichen Kurs der damaligen Außenministerin Karin Kneissl, die er geradezu obsessiv promotete: Praktisch keiner ihrer Medienauftritte, den er nicht auf Twitter ankündigte. Die der FPÖ nahestehende, aber parteilose Politikerin schwang anlässlich ihrer Hochzeit vor fünf Jahren mit Wladimir Putin persönlich das Tanzbein. Seit ihrem Ausscheiden aus der Politik 2019 arbeitet die mittlerweile geschiedene Kneissl unter anderem für den Propagandasender Russia Today (RT) und als Aufsichtsrätin des staatlich kontrollierten Ölkonzerns Rosneft. Wie ein Beamter mit augenscheinlich nur rudimentärsten Englisch-Kenntnissen und einer derart prononciert politischen Schlagseite den Posten des Generalsekretärs einer internationalen Organisation bekam, in deren Zentrum das Thema Menschenrechte steht, bleibt im Dunkeln. S. war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Die Institutsmauern bröckeln

Vonseiten der Pressestelle des Landes Tirol heißt es jedenfalls, dass niemand von seiner Moskau-Mission gewusst habe und das Land erst vom Konsulat und dann von der ukrainischen Botschaft darüber informiert worden sei. S. wurde suspendiert und trat von seiner Funktion als EOI-Generalsekretär zurück. Laut einem Sprecher der Staatsanwaltschaft Innsbruck hat diese die Prüfung der Affäre mittlerweile abgeschlossen und einen Vorhabensbericht ans Justizministerium geschickt.

"Nach unserem Kenntnisstand ist eine Neuaufstellung des EOI-Vorstands im Gang", sagt Tirols Landtagspräsidentin Sonja Ledl-Rossmann. Im Zuge dieses Umbruchs werde sich das Land aus dem Gremium zurückziehen. Zudem werde man sich nicht mehr um die Beheimatung des Generalsekretariats in Innsbruck bemühen und "anderen InteressentInnen den Vortritt lassen". Die allzu offensichtliche Strategie dahinter: Nachdem die für das EOI politisch Verantwortlichen beim Land Tirol, allen voran Ledl-Rossmann, dem Treiben dort jahrelang tatenlos zuschauten, will man sich der Organisation jetzt lieber heute als morgen entledigen. Wie Ledl-Rossmann ist S. langjähriges ÖVP-Mitglied.

Beim Land Tirol will man mit dem EOI nichts mehr zu tun haben. Landtagspräsidentin Sonja Ledl-Rossmann will sich nicht mehr um die Beheimatung des Instituts in Innsbruck bemühen.
Foto: Johann Groder/EXPA/APA

Noch ist das EOI-Generalsekretariat allerdings in den Gefilden des Landes Tirol untergebracht – im Haus der Anwaltschaften in Innsbruck. Dort trifft man dieser Tage niemand an. Die Dame am Empfang zuckt die Schultern, die schwere weiße Tür im fünften Stock ist verschlossen, auf Klingeln und Klopfen folgt keine Reaktion. Auch Anrufe am Festnetz bleiben unbeantwortet. (Maria Retter. Klaus Stimeder, Adelheid Wölfl, 20.2.2023)