Klar, im ersten Moment seien da der Schock und die Angst gewesen. Die Explosionen, die sich ganz nah anfühlten. Die Textnachrichten von den Freundinnen und Freunden. Die Radiosprecher, die versuchten, das Unfassbare in Worte zu fassen; und das alles nur Tage nachdem sie in ihre neue Wohnung gezogen und gerade damit beschäftigt war, es sich gemütlich zu machen. "So seltsam sich das anhören mag: Ich erinnere mich vor allem daran, wie ruhig ich war", erzählt Wladyslawa Ilynska. "So unwirklich es sich anfühlte: Als es losging, war das nur das Ende einer logischen Entwicklung. Und deshalb war ich überhaupt nicht panisch. Es hat alles Sinn ergeben."

Wlada Ilynska, eine Bewohnerin von Odessa, hat der Krieg nicht überrascht.
Foto: Olena Kontsevych

Die 39-Jährige, die ihre Freunde nur Wlada nennen, hat ihr ganzes Leben in Odessa verbracht. In der Hafenstadt ist sie so etwas wie ein Fixstern am Himmel der lokalen Kulturszene. Vor dem Krieg hat Wlada, selbst eine bekannte Dichterin, Literaturfestivals und artverwandte Veranstaltungen organisiert. Sie hat als Sprecherin diverser Kunstkollektive gearbeitet, Vorträge gehalten und den lokalen schreiberischen Nachwuchs bestärkt, seiner inneren Stimme zu vertrauen.

Weiterleben

Damit hat sie nicht aufgehört – zumindest soweit das ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion in ihr Land möglich ist. Wie sich ihr Leben verändert hat? "Ich habe aufgehört, auf Russisch zu schreiben. Das war ein Prozess, der schon vorher bei mir eingesetzt hat, aber nach dem 24. Februar wurde er irreversibel. Heute tue ich, was die meisten hier tun. Ich helfe dem Militär aus, wo ich kann. Mit Spenden, mit dem Sammeln von Zeug, das unsere Jungs brauchen. Ich webe Tarnnetze. Selbst dann, wenn ich eigentlich keine Zeit dafür habe."

Akute Angst, selbst Opfer der Bomben zu werden, hat Wlada heute nicht mehr. Ebenso wenig wie ihre Freunde, Familie und Bekannten. Ein Jahr nach Kriegsbeginn liegt der Mythos von der mächtigen Kreml-Armee in Odessa ebenso in Scherben wie im Rest der Welt. Trotz Schätzungen, die von bis zu 270.000 Toten und Verletzten auf russischer Seite und bis zu 100.000 auf ukrainischer und zehntausenden toten Zivilisten ausgehen, ist es Moskau nicht gelungen, mit Ausnahme Mariupols auch nur ein bedeutendes urbanes Zentrum außerhalb des Donbass einzunehmen.

Ein zweifelhafter Held

In Odessa wie in der Hauptstadt Kiew, in Lwiw und in anderen Orten abseits der Front ging und geht das Leben trotz regelmäßiger Angriffe mit Marschflugkörpern und Drohnen weiter, so gut es eben geht. Der Versuch, die Ukrainer in die Knie zu zwingen, indem man ihre Kraft- und Umspannwerke, ihre Strom- und Wasserleitungen und ihre Heizungen sturmreif schießt, erwies sich trotz Teilerfolgen dank des milden Winters als weitgehend wirkungslos. Selbst in Metropolen wie Dnipro oder Charkiw, die fast täglich unter Beschuss stehen, versuchen die dort gebliebenen Menschen das bestmögliche Leben zu führen, das die Umstände zulassen. So dankbar Wlada der Armee dafür ist, so sehr fürchtet sie sich: "Der Krieg wird nicht schnell enden. Ich glaube, dass wir erst am Anfang stehen."

Wie viele ihrer Landsleute diese Einschätzung teilen, lässt sich heute schwer festmachen. Fest steht, dass nach einem Jahr Krieg eine überwältigende Mehrheit hinter dem Präsidenten steht, wenn er sagt, dass die Bedrohung nur durch die Rückeroberung aller russisch besetzten Gebiete nachhaltig gebannt werden kann. Was nicht automatisch bedeutet, dass sie Wolodymyr Selenskyj blind vertrauen.

"Einerseits ist er ein wahrer Held, weil er nicht davongelaufen ist. Aber das ändert nichts daran, dass es hier vor dem Krieg viele Probleme gab", sagt Wiktor Mazur. Der 35-Jährige, der in seiner Freizeit in diversen Bands die Gitarre beharkt, arbeitet im Zivilberuf als Restaurateur von religiösen Ikonen.

Wiktor Mazur sagt von sich, in ständiger Sorge zu leben.
Foto: Olena Kontsevych

Zu Kriegsbeginn fiel es Wiktor schwer zu akzeptieren, "dass es mit der kulturellen Verbundenheit zwischen der Ukraine und Russland für immer vorbei ist". Mittlerweile hat sich das geändert. "Wie alle Ukrainer musste ich mich daran gewöhnen, in ständiger Sorge um die Menschen zu leben, die mir nahestehen. Besonders um die Alten. Wir leben seit einem Jahr mit einer ständigen inneren Anspannung, die nur schwer erträglich ist." Seinem Präsidenten gibt er dafür keine Schuld. Auch wenn es ihn manchmal wundert, wie sehr Selenskyj im Westen gefeiert wird: "In der Ukraine ist vor dem Krieg viel falsch gelaufen mit den Autoritäten. Aber wie soll man diese Probleme jetzt lösen, in dieser Situation? Ich weiß es nicht."

Neue Rolle für den Präsidenten

Die Rolle wie die Wahrnehmung des Präsidenten bei den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine haben sich im Laufe des Kriegs merklich verändert. Bis zum Beginn der Invasion galt die Wiederwahl Selenskyjs, dem 2019 über zwei Drittel der wahlberechtigten Ukrainer ihre Stimme gegeben hatten, als unwahrscheinlich. Heute kommt der Funktion des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte indes eine andere Bedeutung zu als noch am 23. Februar 2022 – eine, die für manchen Ukrainer weit über seine formale Funktion hinausgeht.

Der 27-jährige Dima ist gelernter Hotelkaufmann und teilt mit dem Präsidenten mehr als nur seine Herkunft. Der drahtige Bursche mit den stechenden Augen und der rot-schwarzen Fahne auf der Uniform stammt aus Krywyj Rih, jener Industriestadt im Osten, in der auch Selenskyj geboren wurde und aufwuchs. Wie der Präsident ist auch Dima Jude. Als er am Morgen des 24. Februar 2022 von seiner Mutter erfuhr, dass der Krieg ausgebrochen war, arbeitete Dima gerade in der tschechischen Stadt Pilsen. Noch am gleichen Tag kaufte er sich ein Busticket, kehrte in die Ukraine zurück und meldete sich freiwillig zur Territorial Defense, der lokalen Milizbewegung. Warum? "Weil die Heimat des jüdischen Volkes nicht Jerusalem oder Israel ist, sondern überall dort, wo Juden leben und bereit sind, sie zu verteidigen. So funktioniert das."

Dima kämpft für die Ukraine, weil er auch die ukrainischen Jüdinnen und Juden verteidigen will.
Foto: Olena Kontsevych

Nebenbei engagiert sich Dima heute bei Magen Ukraine, einem losen Zusammenschluss säkularer ukrainischer Juden, die zuletzt im Rahmen der jährlichen Rosch-Haschana-Feierlichkeiten in der Stadt Uman für die Sicherheit der ultraorthodoxen Pilger aus aller Welt sorgten. Warum er auf seiner Uniform die Farben des militanten Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B) trägt, erklärt er so: "Es ist sehr einfach. Unsere Farben, die der ukrainischen Fahne, sind Blau und Gelb. Aber wenn wir sie mit Blut übergießen, verändern sie sich und werden Rot und Schwarz. Wir geben unser Blut für unsere Freiheit. Deshalb trage ich diese Farben. Damit ich das nie vergesse. Denn wenn wir diesen Krieg verlieren, wird die Ukraine nicht mehr existieren."

Backen für Bachmut

Wie ein Marathon ohne Ende, so fühle sich der Krieg an, sagt hingegen Wladyslaw Malaschtschenko. Der 27-jährige sitzt an seinem Schreibtisch in der Kiewer Zentrale des Sozialprojekts Good Bread From Good People. Säcke mit Mehl liegen in der Ecke, daneben sortieren Mitarbeiter frisch gebackene Brotlaibe in Kartons – etwa 2.000 Stück pro Tag. Sie werden frühmorgens von freiwilligen Helfern und dem privaten Postunternehmen Nova Poshta abgeholt und in die Region Charkiw und das heftig umkämpfte Bachmut geliefert.

Wladyslaw
Malaschtschenko bäckt Brot, damit an der Front nicht der Hunger siegt.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

"Wenn man frisches Brot bekommt, vor allem in diesen Gegenden, dann bedeutet das auch ein wenig Hoffnung", erklärt Malaschtschenko. Das Projekt finanziert sich mit Hilfen von internationalen Organisationen und aus Spenden: Vor dem Eingang steht ein Stromgenerator aus Norwegen. Daneben parkt ein Minibus aus der Schweiz. "Nur dank dieser Hilfe konnten wir unsere Produktion aufrechterhalten", erklärt Malaschtschenko. Die täglichen Stromausfälle stellten das Team vor eine weitere Herausforderung.

So wie die meisten in der Ukraine leistet auch Malaschtschenko seit Beginn des Krieges seinen Beitrag für das Land. Er hilft Zivilisten und Soldaten an der Front. Unkompliziert und schnell, ohne Bürokratie und manchmal unter großem Risiko für das eigene Leben hat er sich im vergangenen Jahr oft selbst auf den Weg gemacht, um das Brot auszuliefern. In Gegenden, wo den Menschen aufgrund des Krieges kaum etwas geblieben ist. "Diese Aufgabe ist emotional sehr schwer", sagt er. "Es ist nämlich nicht so, dass die Menschen einem dankbar sind, wenn man vor Ort Lebensmittel austeilt. Dafür ist ihre Lebenssituation zu schlecht und die Angst und die Depression sind zu groß."

Die zwölf Monate Krieg, Stress und die konstante Arbeit haben Spuren hinterlassen. Malaschtschenko sagt, dass er sich immer öfter krank fühlt und dass er so, wie viele andere, die humanitäre Hilfe leisten, mittlerweile an einem Burnout leide. Er sei bis zu einem gewissen Punkt abgestumpft, erklärt Malaschtschenko. "Ich fühle auch nicht mehr viel, wenn ich höre, dass wieder ein Bekannter von mir gestorben ist. Ich kann nicht einmal mehr weinen. Ich habe ständig das Gefühl, dass ich nicht genug machte."

In der Bäckerei beschäftigt er vor allem Menschen mit Behinderung. Mit deren Gründung stellte er vor fünfeinhalb Jahren eines der wenigen inklusiven Projekte in der Hauptstadt auf die Beine. "Die Regierung tut in diesem Bereich zu wenig. Es gibt leider noch immer die alten Strukturen mit den schrecklichen Internaten und psychiatrischen Einrichtungen", sagt Malaschtschenko.

Auf die Frage, wie das Team mit Luftalarm umgehe, erklärt er, dass dieser weitgehend ignoriert wird. Bewusst. Er könne mit seinen Mitarbeitenden nicht ständig in einen engen Schutzraum laufen, nicht wissend, wie lange sie dort sein müssen. Und das manchmal auch noch mehrmals täglich. "Für viele unserer Mitarbeitenden würde das zu viel psychischen Stress bedeuten", sagt Malaschtschenko. "Wir versuchen ruhig zu bleiben, aber viele von ihnen verstehen, dass es einen Krieg gibt und dass etwas nicht in Ordnung ist."

#FreeTheLeopards

In einem anderen Stadtteil von Kiew bittet die 55-jährige Elena Taran in ein privates Tierheim, das die frühere Möbeldesignerin eingerichtet hat. Mehr als 120 Katzen leben hier, Taran hat sie aus ihrer Heimatstadt Cherson evakuiert. Sie nimmt eine Katze auf den Arm und sagt: "Ich habe dich so lieb." Taran kennt jedes Tier beim Namen. Ihre Hände sind übersät mit feinen Kratzern. Einige der Katzen, erzählt Taran, haben keine Besitzer mehr oder leben auf der Straße, andere wurden zurückgelassen von jenen, die ins Ausland geflohen sind. Seit dem Krieg habe die Zahl an ausgesetzten Tieren stark zugenommen.

Elena Taran rettet Katzen, die während der russischen Besatzung obdachlos wurden.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Mehr als acht Monate stand die Stadt Cherson in der Südukraine unter russischer Besatzung, bis sie von der ukrainischen Armee befreit wurde. Dann zogen sich die russischen Truppen auf die andere Seite des Flusses Dnipro zurück und sind seither in Artilleriereichweite. Nach der Befreiung der Stadt im November kam Taran nach Kiew. "In den ersten Tagen habe ich mich wie ein Alien gefühlt. In Cherson haben wir monatelang ohne Strom und Empfang gelebt und hatten ständig Angst, dass uns die Russen verhaften. Hier in Kiew ist das Leben weitergegangen." Nun ist sie es, die sich um die Impfungen, die Medikamente, das Futter kümmert. Und die im Monat auf Kosten von mehreren Hundert Euro sitzenbleibt. Denn als Binnenvertriebene erhält Taran vom Staat umgerechnet nur 50 Euro im Monat.

Auch Wiktoria Sabadasch kümmert sich um die Straßenkatzen. Ihren Leopardenmantel trägt sie aber aus einem anderen Grund. Seit die Lieferung von Leopard-2-Panzern zugesagt wurde, grassiert in Kiews junger Szene ein Trend: Man trägt Accessoires und Kleidung in Leoparden-Muster, fotografiert sich und postet die Bilder unter dem Hashtag #FreeTheLeopards auf Tiktok und Instagram.

Wiktoria Sabadasch trägt stolz das Muster des Leoparden – Panzer diesen Namens sollen der Ukraine an der Front helfen.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Katzen als Trost

"Während der russischen Besatzung in Cherson haben mich die Katzen oft vor schlimmen Situationen bewahrt", sagt hingegen Elena Taran. Wenn sie verwundete oder fast verhungerte Tiere neben den Straßen eingesammelt hat, haben sie die Russen an den Checkpoints nicht verhört, sondern einfach durchfahren lassen.

"Alles, was ich will, ist zurück nach Hause, in meine Stadt, in mein Leben", sagt sie unter Tränen. "Ich hatte noch keine Zeit, um das alles zu verarbeiten. Ich kann nur bis morgen denken, nicht weiter. Ich musste fliehen, aber ich habe mein Herz dort gelassen." (REPORTAGE: Daniela Prugger aus Kiew, Klaus Stimeder aus Odessa, FOTOS: Helena Manhartsberger aus Kiew, 18.2.2023)