Nach Wladimir Putins Rede, in der er mit der Aussetzung des New-Start-Vertrags drohte, ist klar: Nukleares Prestige für Russland ist wichtig – und deshalb ist ein Einsatz von Atomwaffen unwahrscheinlich, sagt der renommierte Yale-Historiker Timothy Snyder. In diesem Gastbeitrag erläutert er vier Gründe, weshalb es vernünftig ist, der Ukraine zu helfen, einen konventionellen Krieg zu gewinnen.

Atomare Erpressung darf nicht funktionieren, Aufrüstung muss vermieden werden.
Illustration: Lukas Friesenbichler

Clickbait! Das war und ist ein Problem in der Debatte über die russische Invasion. Die Medien erregen Ihre Aufmerksamkeit, indem sie von "Eskalation!" schreiben. Ganz zu schweigen von "atomaren Drohungen!". Und "Atomkrieg!". Die russischen Propagandisten nutzen das mit ihren Verweisen auf Atomwaffen geschickt aus. Was eigentlich eine nüchterne Diskussion sein sollte, wird leider mehr geprägt von einem Zählen von Dollars als einem Abwägen von Risiken.

Das ist ein Grund, warum wir uns für unsere Diskussion über einen möglichen Atomkrieg schämen sollten, aber nicht der Hauptgrund. Unser Nuklear-Gerede ist eine Möglichkeit, die Opferrolle zu beanspruchen und dann den tatsächlichen Opfern die Schuld zu geben. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf einen hypothetischen Austausch von Raketen lenken, können wir uns einbilden, dass wir die Opfer sind. Plötzlich scheint der tatsächliche Krieg keine Rolle mehr zu spielen, da unsere Leben (in unserer Vorstellung) in Gefahr sind. Und die Ukrainer scheinen daran schuld zu sein. Wenn sie nur aufhören würden zu kämpfen, dann wären wir alle in Sicherheit. Das ist genau das, was uns die russischen Propagandisten weismachen wollen. Und das ist falsch.

Echte Ukrainer kämpfen und sterben in einem Krieg, der unserer Sicherheit in vielerlei Hinsicht dient – einschließlich der Verringerung des Risikos eines Atomkriegs. Und wir verbringen unsere Zeit damit, uns in unsere eigene Opferrolle hineinzudenken?

"Nichts zu tun läuft immer darauf hinaus, etwas zu tun, und in der Regel (wie im Fall der russischen Invasion) ist es das Falsche!"

Ein Einknicken vor dem russischen Atomgerede ist auch aus strategischer Sicht falsch. Es ist ein Beispiel für eine narzisstische Fantasie, die die Diskussionen über die US-amerikanische Außenpolitik beherrscht. Die Fantasie der allmächtigen Unterwerfung ist die aus dem Amerikanischen Exzeptionalismus und der Ungeduld entsprungene Vorstellung, dass alles gut wird, wenn die USA nichts tun, weil die USA die Macht hinter allem sind. Wenn wir tun, was die russischen Propagandisten wollen, und nichts für die Ukraine tun, dann wird es (in dieser Fantasie) keinen Atomkrieg geben.

In der Fantasie der allmächtigen Unterwerfung haben die USA die magische Macht, durch völlige Untätigkeit einen friedlichen Status quo wiederherzustellen, in dem wir alle gut schlafen können. Aber Amerika hat keine solche Macht. Und es gibt keine Möglichkeit, nichts zu tun. Nichts zu tun läuft immer darauf hinaus, etwas zu tun, und in der Regel (wie im Fall der russischen Invasion) ist es das Falsche! In diesem Fall würde ein Nichtstun (bei der Unterstützung der Ukraine) das Risiko eines Atomkriegs erhöhen. Indem die USA etwas Bestimmtes taten – Waffen an die Ukraine zu liefern –, haben sie den Ukrainern geholfen, das Risiko eines Atomkriegs zu verringern.

Schneller Ausweg

Ich kann das nur begründen, wenn Sie mir – Schritt für Schritt – in den Bereich des strategischen Denkens folgen. Die Fantasie der allmächtigen Unterwerfung baut Ängste auf und ab. Jemand in Russland spricht eine Drohung aus; unfähige Kommentatoren und Propagandisten verstärken sie; und dann suchen wir nach einem schnellen Weg, die Angst abzubauen. Oder: Die Vereinigten Staaten schicken Waffen; ahnungslose Kommentatoren und Propagandisten sprechen von "Eskalation!"; und wieder suchen wir nach einem schnellen Weg, die Angst loszuwerden. Wenn dies zur Gewohnheit wird, ersetzt es das Nachdenken über Risiken und Vorteile der Politik.

Also tief durchatmen. Russland hat ein Interesse an der Angst, die Medien haben ein Interesse an der Angst, Ihr Körper kann in der Angst gefangen sein. Das zu überwinden ist der schwierige Teil. Wenn wir das geschafft haben, ist das strategische Denken der einfache Teil. Es beginnt in der realen Welt. Russland ist in die Ukraine einmarschiert. In einer Welt, in der die Invasion stattgefunden hat, ist die vernünftigste Atompolitik, der Ukraine zu helfen, einen konventionellen Krieg zu gewinnen. Dafür gibt es vier Gründe.

Keine Erpressung, keine Aufrüstung

Erstens wäre es eine Katastrophe für alle, wenn die russische atomare Erpressung Erfolg hätte. Wenn ein Staat mit Verweis auf sein Atomarsenal andere unter Druck setzen kann, dann wird jede Art von Außenpolitik unmöglich. Staaten ohne Atomwaffen werden immer nachgeben müssen, und Atommächte werden die Welt regieren. Wenn die russische atomare Erpressung erfolgreich ist, können wir nicht nur mit mehr davon rechnen, sondern auch mit Erpressung durch andere Atommächte. Wir können auch davon ausgehen, dass andere Länder Atomwaffen bauen werden, um sich gegen künftige Erpressungen zu wehren. Die Unterstützung der Ukraine verringert also die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, indem sie zeigt, dass atomare Erpressung nicht funktioniert.

Zweitens sollte die weltweite atomare Aufrüstung verhindert werden. Je mehr Länder über Atomwaffen verfügen, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie eingesetzt werden. Die russische Politik treibt die atomare Aufrüstung voran. Die Ukraine hat ihre Atomwaffen eigentlich aufgegeben. Dann marschierte Russland ein, 2014 und erneut 2022. Die Lektion für Staaten ohne Atomwaffen ist, dass sie Atomwaffen brauchen werden, um eine russische Invasion oder eine Invasion durch eine andere Atommacht abzuwehren. Um diese Schlussfolgerung zu verhindern, muss die Ukraine einen konventionellen Krieg gewinnen. Die Unterstützung der Ukraine verringert also die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, indem sie die Wahrscheinlichkeit der atomaren Aufrüstung verringert.

Das europäische und das asiatische Szenario

Drittens sollte das europäische Szenario einer atomaren Konfrontation so unwahrscheinlich wie möglich gemacht werden. Dieses Szenario ist ein großer Krieg zwischen Russland und der Nato, in dem es auf beiden Seiten Atommächte geben würde. Diese Vision hat jahrzehntelang in den Köpfen der US-Amerikaner und Europäer herumgespukt. Dank des ukrainischen Widerstands ist ein solcher Krieg heute weitaus unwahrscheinlicher als in der Vergangenheit. Die Kräfte, die Russland bei einem Angriff auf ein Nato-Mitglied hätte einsetzen können, werden in der Ukraine vernichtet. Selbst für den Fall, dass Russland doch einen Angriff auf einen Nato-Staat unternimmt, ist die Versuchung einer atomaren Vergeltung durch das Wissen geringer geworden, dass Russland in einem konventionellen Krieg besiegt werden kann. Die Unterstützung der Ukraine verringert also die Gefahr eines Atomkriegs und macht das europäische Szenario unwahrscheinlicher.

Viertens sollte das asiatische Szenario einer atomaren Konfrontation so unwahrscheinlich wie möglich gemacht werden. In den letzten paar Jahrzehnten hat die Möglichkeit einer chinesisch-amerikanischen Konfrontation um Taiwan die Diskussionen in Washington dominiert. Die US-Amerikaner sind frustriert und verängstigt durch das, was sie für die Unvermeidbarkeit der Konfrontation halten. Der Gedanke, dass ein anderes Land die Konfrontation abwenden könnte, war nie Teil der Debatte. Doch genau das passiert gerade. Durch ihren Widerstand gegen Russland haben die Ukrainer Peking zur Erkenntnis gezwungen, dass offensive Operationen riskant sind und böse enden können. Peking hat sein Interesse an Taiwan keineswegs verloren, aber jeder drastische Schritt wurde zumindest für einige Jahre aufgeschoben.

"Die Ukrainer haben das gefährlichste Szenario hinausgezögert."

Und das sind ein paar wichtige Jahre. Noch vor einem Jahr, als Russland einmarschierte, war die gängige Meinung, dass China eine aufsteigende Macht sei. Jetzt ist das viel weniger klar. Die Ukrainer haben das gefährlichste Szenario hinausgezögert, und damit haben sie uns vielleicht den gefährlichsten Moment erspart. Bemerkenswert ist, dass sie all dies getan haben, ohne sich mit China anzulegen. Die Unterstützung der Ukraine verringert also die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, indem sie das asiatische Szenario viel unwahrscheinlicher macht.

Wenn wir das Risiko eines globalen Atomkriegs verringern wollen, dann sollten wir die Ukrainer bewaffnen. Das verringert die Attraktivität atomarer Erpressung, das Risiko der atomaren Aufrüstung und die Wahrscheinlichkeit der Szenarien.

"Die ukrainische Führung weiß, was sie tut."

Wenn wir an einen lokalen Einsatz von Atomwaffen durch Russland in der Ukraine denken, ist das eine andere Frage. Das kann man nicht ausschließen. Aber hier geht es um ein Risiko, das die Ukrainer abwägen müssen, denn es ist ihr Land und ihr Volk. Sie haben immer wieder deutlich gemacht, dass die Lieferung westlicher konventioneller Waffen für sie Priorität hat. Man könnte sagen, dass die Ukrainer die Risiken falsch einschätzen. Dies hätte jedoch den Beigeschmack von kolonialer Arroganz, die so viele von uns davon überzeugt hat, dass die Ukraine keinen Widerstand leisten oder, wenn sie es täte, schnell besiegt werden würde. Die ukrainische Führung weiß, was sie tut. Und sie tut das, was ihre Wähler von ihr erwarten.

Wie Kriege enden

Die Hypothese, dass Putin mit dem Rücken zur Wand steht und keine Wahl hat, wurde widerlegt. Russland hat die Schlachten um Kiew, Charkiw und Cherson verloren, ohne Atomwaffen einzusetzen. Russland hat fast ein Jahr lang verschiedene überraschende Niederlagen erlitten, nicht zuletzt den Zusammenbruch seines gesamten Kriegsplans, der den Sturz der ukrainischen Regierung und die Kontrolle des gesamten Landes vorsah. Und dennoch: kein Einsatz von Atomwaffen. Stattdessen wird bei jeder Niederlage darüber berichtet, dass Russland nicht wirklich besiegt wurde. Das ist bemerkenswert. Die Eskalation, die man tatsächlich sieht, ist eine Erzählung. Es kostet die Russen immer mehr Mühe, eine Niederlage zum Sieg zu erklären. Aber bis jetzt sind sie dieser Aufgabe gewachsen.

Kriege enden, wenn die politische Macht der Machthaber bedroht ist, und diesen Punkt haben wir noch nicht erreicht. Wenn es so weit ist, wird Putin die Bedrohung in Moskau spüren, nicht in der Ukraine. In einer solchen Situation wird ihm der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine nicht helfen. Der Abzug konventioneller Streitkräfte für einen Machtkampf in Russland hingegen schon. Während dieses Machtkampfes wird kein Russe, der um die Kontrolle des Kreml kämpft, zugeben, dass der Krieg in der Ukraine verloren wurde. Stattdessen werden die Anwärter auf die Macht mit ihren Geschichten wetteifern, wie groß der Sieg tatsächlich war.

Der bedrohte Großmachtstatus

Der Einsatz einer Atomwaffe auf dem ukrainischen Schlachtfeld hätte für Russland weitaus höhere Kosten zur Folge – im Moment, aber auch noch Jahrzehnte später. Sollte Russland das Tabu des Atomwaffeneinsatzes brechen, würde sein eigener Status als Militärmacht durch die militärische Reaktion anderer dramatisch beeinträchtigt werden.

Manchmal wird gesagt, dass eine Atommacht keinen Krieg verlieren kann. Das bringt Historiker dazu, in ihre Pölster zu weinen. Die Vereinigten Staaten sind eine Atommacht, die regelmäßig Kriege verliert. Die Sowjetunion hat in Afghanistan verloren, Russland hat den ersten Tschetschenienkrieg verloren. Der Atomtest im Jahr 1960 hat Frankreich nicht vor der Niederlage in Algerien bewahrt, ebenso wenig wie die britischen Atomwaffen das Empire bewahrt haben. Der Einsatz einer Atomwaffe auf dem Schlachtfeld wird den Krieg in der Ukraine nicht für Russland gewinnen, aber er wäre ein enormer Schlag für den Status Russlands.

"Es gibt keine Erklärung, die das Gefühl des Großmachtstatus wiederherstellen kann, nachdem er verloren ist."

Als dieser Krieg begann, waren die beiden Dinge, die die Russen glauben ließen, eine Großmacht zu sein, die Armee und das Atomwaffenarsenal. Wenn Russland eine Atomwaffe einsetzt, ist das ein Eingeständnis, dass seine Armee besiegt wurde. Damit würde aber auch die erste Quelle des Status aufgegeben – ebenso wie die zweite. In dem Moment, in dem Russland eine Atomwaffe einsetzt, werden andere Länder – inklusive jener mit überlegener Wirtschaft und Wissenschaft – ihre eigenen Atomwaffenarsenale aufbauen. Wenn das passiert, ist Russland keine Großmacht mehr, nicht einmal in den Köpfen der Russen. Das ist für die russischen Eliten der einzige unerträgliche Ausgang dieses Krieges. Er ist viel schlimmer als ein Truppenabzug aus der Ukraine – denn dafür wird es immer eine Erklärung geben. Es gibt aber keine Erklärung, die das Gefühl des Großmachtstatus wiederherstellen kann, nachdem er verloren ist.

Clickbait zum Jahrestag! Es ist nun fast ein Jahr her, dass Russland mit seiner umfassenden Invasion in der Ukraine begonnen hat. Der Zauber der Jahrestage sorgt dafür, dass es am 24. Februar viele Artikel über die Ukraine geben wird, zweifellos einige davon reflektierend und interessant. Es wird jedoch auch eine Reihe von Essays geben, die in etwa so lauten werden: "Hey, lasst uns weiter über den Atomkrieg reden!" Aber das Wichtigste, was man über den Atomkrieg sagen kann, ist: Er wird nicht stattfinden. (Timothy Snyder, 22.2.2023)